Wandel mit Widersprüchen
Die einen kaufen Bio und fahren Rad, um die Welt zu retten – die anderen demonstrieren gegen Windräder und verlieren den Glauben an die Demokratie. Markus Leibenath kennt beides. Vor allem kennt er die Gefahr des Selbstbetrugs. Was helfen kann? Mitgefühl, meint er.
Text: Andreas Roth // Fotos: Panja Lange
Markus Leibenath balanciert. Die rechte Hand am Fahrradlenker, den rumpelnden Anhänger voller Einkäufe, die Linke hält den Korb mit den Kräutern und Früchten. So schlängelt er sich durch die Menschen an der Straßenbahnhaltestelle, denen eine Werbetafel zuruft: »Auch Du bist Klimaheld«. Junge Radler überholen ihn links, ein alter Radfahrer ungeduldig rechts auf dem Fußweg. Sogar der Kühlturm des Dresdner Gaskraftwerks grüßt schon grün. Da dreht sich gerade etwas. Aber was genau? Die Autos sind noch in der Mehrheit. Markus Leibenath versucht das Gleichgewicht zu halten. »Für mich hat das Ganze viel mit Widersprüchen zu tun und mit der Suche nach einer Haltung«, sagt er.
Markus Leibenath (54) ist mittendrin. In der Suche nach einem sozialen und ökologischen Wandel. Und auch in den Widersprüchen. Weil das Ganze nicht anders zu gewinnen ist. Ein Wissenschaftler mit kleiner Brille, der um genaue Antworten ringt. Der zuhört, abwägt, freundlich, aber klar Kontra gibt. Auch sich selbst. Wenn er als Professor zu Kongressen fliegen muss, obwohl er privat auf ein Auto verzichtet. Wenn er mit Windkraft-Gegnern auf dem Land verständnisvoll spricht und trotzdem fragt: Wo soll der Strom sonst herkommen? Oder wenn er samt Frau und zwei Söhnen im TGV-Schnellzug nach Südfrankreich fährt und weiß, dass auch der seinen CO2-Fußabdruck hat.
»Man steht leicht in der Gefahr, dass man nur sein Gewissen beruhigt«, sagt Markus Leibenath. »In der Gefahr des Selbstbetrugs, dieser Widersprüche.«
Es fängt schon beim Einkaufen an. Vor den Obstkisten, genauer gesagt. Alles hier in der Dresdner Verbrauchergemeinschaft ist Bio. Markus Leibenath sieht genau hin. Statt der italienischen Tomaten greift er zu denen aus der Region. Und die Gurken, freut er sich, wuchsen im Nachbarstadtteil Gohlis heran. Aber Äpfel gibt es gerade nur aus Italien. »Leider«, sagt er, diese Transportwege. Und die Bananen erst. Immerhin haben sie einen Fair-Handels-Siegel. Draußen vor dem Markt erblickt er öfter von Bio-Käufern geparkte SUVs.
Das Brot vom Bio-Bauernhof Mahlitzsch verstaut Markus Leibenath in einem weißen Stoffbeutel. Seine Mutter hat ihn bestickt. Ein Gruß aus der geordneten westdeutschen Wohlstandswelt seiner Kindheit: Mit zwei Autos, konservativer Grundierung, schon früh war Markus Leibenath Vorsitzender der Jungen Union in seiner ostwestfälischen Heimatstadt. Doch da war noch etwas Anderes: Die Tiere und Pflanzen auf dem Bauernhof seiner Großeltern und ein Mitgefühl für dieses Leben. Er lernte Gärtner, trat aus der CDU aus, studierte Landespflege. Dieses Mitgefühl ließ sich nicht ausschalten.
Er spürt es heute, wenn er die braun sterbenden Bäume beim Wandern in der Sächsischen Schweiz erblickt. Oder in den Medien die Dürre in der Sahel-Zone. Dann muss er an die Geschichte vom armen Lazarus denken, die Jesus in der Bibel erzählt. Lazarus liegt hungernd vor der Tür eines Reichen und nur die Hunde lecken seine Wunden. Seinen Fehler erkennt der Reiche erst, als es zu spät ist. »Das ist es doch, was wir tun: Wie wir leben, geht auf Kosten zukünftiger Generationen und von Menschen in anderen Ländern«, sagt Markus Leibenath. »Da sterben Menschen und die Vielfalt des Lebens auf der Erde für unseren Wohlstand. Das wollen wir bloß nicht hören.«
Markus Leibenath versucht, seine Ohren dafür zu schärfen. In der Stille. Um dem Selbstbetrug keine Chance zu lassen. Es gelingt nicht jeden Tag. Aber heute Morgen erst hat er sich vor der Arbeit wieder auf seine Matte gesetzt und einen Satz dieses Jesus von Nazareth meditiert: »Kommt doch alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid«.
Von denen gibt es genug. Und Markus Leibenath konnte als Wissenschaftler am Dresdner Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung über Jahre beobachten, wie die Energiewende neue Mühselige und Beladene produzierte. Er hat zu den Protesten gegen neue, rund 200 Meter hohe Windräder in Ostsachsen geforscht und Bürger befragt. »Viele Leute fühlen sich verraten und verkauft«, hat er erfahren. »Seit der Wendezeit hat sich so viel für sie geändert und jetzt wird ihnen schon wieder etwas übergestülpt.«
Es gibt da viele Konfliktlinien: Zwischen Land und Stadt, Linken und Konservativen, Jungen und Alten. Am Ende sei die versprochene Bürgerbeteiligung bei den Windkraftprojekten meist nur »Beteiligungsfolklore«, beobachtet der Forscher Markus Leibenath, »und Politiker machen sich aus dem Staub, anstatt den Ausbau erneuerbarer Energien offensiv zu vertreten«. Denn bloß mit ganz wenigen Gründen wie etwa dem Artenschutz könnten Anwohner ein solches Vorhaben stoppen. So will es die Gesetzeslage, um der Energiewende eine Chance zu geben. Ein Nebenprodukt ist dann bei nicht wenigen Menschen eine Enttäuschung von der Demokratie.
Markus Leibenath hat diese Widersprüche zu seinem Forschungsobjekt gemacht. Seit dem Herbst lehrt er über sie auch als Professor an der Universität in Kassel. Das weiße Haus mit den geraden Formen, das seine Familie vor zehn Jahren in einer Gemeinschaft bauen ließ, steht im Dresdner Stadtteil Löbtau auch an einer Grenze. Auf der anderen Straßenseite beginnen die Blocks des Plattenbauviertels Gorbitz.
Im Bauch seines Hauses brummt die Lüftungsanlage. Sie nutzt die Wärme der verbrauchten Abluft aus den Räumen, um die frische Kaltluft von draußen zu erwärmen. Geschützt von dick gedämmten Wänden und Fenstern. Markus Leibenath liest den Energiezähler ab. Gut 7000 Kilotwattstunden im Jahr verbraucht sein Haus für Heizung und Warmwasser. Viel weniger als vierköpfige Familien in Wohnungen. Aber auch das stimmt: »Die Außendämmung musste erst sehr energieintensiv produziert werden.« Und viele Menschen etwa drüben über der Straße in den Plattenblocks, weiß Markus Leibenath, haben kleinere Wohnungen und machen weniger Reisen und produzieren womöglich noch weniger CO2. Dafür stehen die Parkplätze abends voller Autos.
»Man darf sich nicht viel darauf einbilden«, sagt Markus Leibenath leise und schaut auf seine Hände, wenn er über all diese Widersprüche nachdenkt. »Man muss ja nicht perfekt sein.« Gott liebt die Unperfekten, auch das weiß er.
Ganz am Boden aller Widersprüche findet Markus Leibenath einen letzten Widerspruch. Einen, den die Menschen selbst erfunden haben. Ganz bewusst. Die Trennung zwischen den Menschen und den anderen Tieren, zwischen Kultur und Natur, die einen wertvoller, die anderen weniger wertvoll. »Wir sind da mit unserem Denken zu tief drin«, sagt Markus Leibenath. »Man kann diesen Widerspruch nur versuchen abzumildern und wieder berührbar werden.«
Er muss an die Schweine in den Schlachthöfen denken, die sich Nester bauen wollen und Nähe suchen und so viel an Erbgut gemeinsam haben mit den Menschen. Oder an all die gezähmten Flüsse, die nur noch eingesperrt fließen, sie tun ihm weh. »Das Mitleiden und sich anrühren Lassen vom Leid anderer müssen wir in unserer naturwissenschaftlich-kapitalistischen Kultur wieder lernen. Dass man verletzlich bleibt und nicht abstumpft.« Auch das hat er von Jesus gelernt und von Lazarus.
Gestern erst ist er mit seinen Söhnen auf dem Fahrrad über die Hänge südlich von Dresden gefahren. Einen Storch haben sie betrachtet und einen Bussard bewundert. Und Getreidekörner durch ihre Hände rieseln lassen. Verletzlich bleiben kann auch schön sein.
Ressourcenhunger und globale Gerechtigkeit
9. März 2021 // 18 Uhr: Natürliche Ressourcen sind endlich, doch die Nachfrage wächst ungebremst: In den meisten Industriestaaten ist der Ressourcenhunger durch den Lebensstil bedingt, in Schwellenländern durch Bevölkerungswachstum. Was bedeutet dieser Trend für unser globales Zusammenleben? Welche Konflikte zeichnen sich ab und wie können wir sie lösen? Wie kann globale Gerechtigkeit gestaltet und somit Spaltung, Ungleichheit und Ausgrenzung entgegengewirkt werden?
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