Wald wächst immer
Dürre und Klimakrise verwunden schon heute viele Wälder in Sachsen. Leila Reuter bleibt trotzdem gelassen. Als Försterin muss sie in Jahrhunderten denken – und in größeren Zusammenhängen.
Text: Andreas Roth // Fotos: Steffen Giersch
Sie könnte die Verwüstung sehen, die Baumstümpfe, die kahle Fläche. Das Sterben in ihrem Wald. Doch Leila Reuter sieht das Leben. Hier das gelbe Fuchskreuzkraut zwischen dem toten Holz, dort die Weidenröschen und die Brombeeren. Sachte berührt sie eine junge Fichte, die ihren Kopf aus dem Boden reckt. Die tote Lichtung lebt. Und die Försterin ist gar nicht panisch. Sie ist demütig, was ziemlich genau das Gegenteil ist von Panik.
Eigentlich hätte Leila Reuter (50) allen Grund zur Panik. Für den Wald wird gerade allerorten Alarmstufe Rot ausgerufen. Wenn die Revierförsterin der Kirchlichen Waldgemeinschaft Westerzgebirge mit ihrem bulligen Ford Ranger durch den Lößnitzer Kirchenwald fährt, kann sie auch sehen warum. Sie schaut auf eine Lichtung, die vor einem Jahr noch voller Bäume war. Ein Drittel Hektar. »Hier hat der Buchdrucker zugeschlagen«, sagt Leila Reuter.
Die Försterin hebt ein Stück Fichtenrinde auf und fährt mit dem Finger über die Gänge, die der Borkenkäfer wie Zeilen eines Buches in sie gefressen hat. Daher sein Name. Der Tod der Fichten hier liegt am Ende nicht an ihm. Es liegt an den zwei letzten Dürrejahren, die Bäume konnten nicht mehr genug Harz bilden und sich wehren. Dann zerfressen die Borkenkäfer genau jene Schichten unter der Rinde, in denen der Baum seine Nährstoffe transportiert. Dann ist Schluss.
»Es ist unserer Monokultur geschuldet«, sagt Leila Reuter. Denn der Buchdrucker frisst nur Fichtenholz. Und 80 Prozent der Bäume in den Wäldern der Revierförsterin sind Fichten. So wie in vielen Gebieten Sachsens. Der große Forstwissenschaftler Heinrich Cotta hatte die Aufforstung mit Fichte vor gut 200 Jahren empfohlen, um das kahl geschlagene Erzgebirge wieder grün werden zu lassen. Die Fichte wächst schnell und bringt gutes Geld. Bis heute.
Nur eines ist anders geworden: Der Mensch hat das Klima derart angeheizt, dass es auch die Bäume in Leila Reuters Wald hoch oben im Gebirge zu spüren bekommen. »Der Mensch hat die Chance umzukehren, das steht schon in der Bibel«, sagt die Försterin und stapft über die abgeholzte Fläche. »Aber er wird es nicht tun, weil er zu gierig ist. Deshalb wird sich die Bibel bis zu letzten Seite bewahrheiten.« Bis zur Apokalypse. Die schwarzen Baumstümpfe vor ihr könnten ihre ersten Boten sein. Aber Leila Reuter ist überhaupt nicht ohne Hoffnung. Sie bewirtschaftet ihren Wald mit einer erzgebirgischen Fröhlichkeit.
»Deutschland ist Waldland, irgendwas wächst immer«, so geht ihr Grundsatz. Also lässt sie die abgeholzte Fläche stehen und wartet. Auf größeren Kahlflächen lässt sie unter anderem Eichen, Lärchen und Bergahorn pflanzen. In einer Spalte im Stamm einer gefallenen Fichte hat eine kleine Buche Wurzeln geschlagen. Der alte Stamm wird irgendwann zu Erde, die Buche wird wachsen. Und Leila Reuter wird ihr Platz geben.
»Die Altbäume kommunizieren mit den Jungbäumen über das Pilzmyzel im Boden wie mit Geschwistern und Eltern. Das macht sie viel stabiler und sie werden nicht so stark vom Wild verbissen wie eigens gepflanzte Bäume aus der Baumschule.« Dort diese Fläche, zeigt sie, war noch vor Jahrzehnten kahl. Jetzt wächst auf ihr dichter Wald. »Das hat alles die Natur selbst gemacht.« Der Wald ist für Leila Reuter ein Lehrmeister der Hoffnung. Und der Gelassenheit.
Als Kind war der Wald für sie ein ziemlich unheimlicher Ort. Weil man ihn nicht durchschauen kann. So dicht, so dunkel. Ihr Vater war der Revierförster im erzgebirgischen Auerbach. Doch seit ihrem zehnten Lebensjahr zog es sie jeden Tag nach der Schule in den Forst, sie half beim Bauen von Zäunen, kalkte Bäume. Später studierte sie Forstwissenschaft.
Seit 17 Jahren ist Leila Reuter nun Revierförsterin von gut 1000 Hektar Kirchenwald zwischen Freiberg und Vogtland, dem Sächsischen Hügelland und dem Erzgebirgskamm. Viele Wälder wurden bereits im Mittelalter fürs Seelenheil der Kirche vererbt.
Sie fährt mit ihrem Geländewagen langsam über die Waldwege, sucht nach den Bohrmehl-Spuren der Borkenkäfer und markiert die kranken Bäume mit einem roten K, um dem Sterben möglichst früh Einhalt zu gebieten. Oder sie schaut, ob die einen Bäume den anderen Platz und Licht stehlen. Oder welche Stämme bereit sind zum Fällen. Dann gibt sie ihren drei Waldarbeitern mit der Säge Bescheid.
Oft stoppt Leila Reuter auf ihren Touren den Motor. Dann steigt sie aus. Nach dem Regen riecht der Wald nach Pilzen. Oder er riecht nach Harz. Die Kiefern tragen den Duft ätherischer Öle. »Ich bin eigentlich ein schlechter Beter«, sagt die Försterin, die sich erst als Erwachsene zusammen mit ihrem Sohn taufen ließ. Aber wenn sie im Herbst das gelbe Ahornlaub gegen den blauen Himmel scheinen sieht oder das Sonnenlicht, das wie heilige Strahlen schräg zwischen den Bäumen auf den Weg fällt – dann dankt sie Jesus, ganz für sich. »Ich brauche die Freiheit hier im Wald. Das ist für mich Glückseligkeit.«
Das Handwerk der Waldarbeiter ist nicht besinnlich. Es ist laut wie die Kettensäge und der alte Traktor-Schlepper, und gefährlich wie die langsam und dann immer schneller sich neigende hohe Lärche. »Achtung!«, ruft es durch den Wald, dann ein dumpfer Knall. Leila Reuter hat Respekt vor dieser Energie. Sie ist nicht gern bei Fällungen dabei. »Diese Lärchen sind der Schatz des Jahres!«, ruft sie ihren Arbeitern zu. »Das ist das einzige Geld, das wir dieses Jahr verdienen.« Die Männer blicken skeptisch.
Denn natürlich geht es im Wald auch um Geld. Bei dem vielen gefällten Holz in diesen Dürrejahren zahlen Sägewerke kaum noch etwas für Bäume, auch in Leila Reuters Kirchenwäldern gehen die Verluste in die Hunderttausende. Sie haben gut gewirtschaftet und können den Verlust aus den Rücklagen auffangen. Aber das wird nicht mehr lange reichen. Deshalb hat die Försterin einen Wunsch an die Politik: Eine Flächenprämie vom Staat für alle Waldbesitzer, da sie der Allgemeinheit Erholung und der Natur Schutz bieten. Das tun sie bisher kostenlos.
Bei anderen staatlichen Ideen indes kann die Försterin knorrig werden wie ein sturmerprobter Erzgebirgsbaum. Wenn immer neue Pläne für die Anpassung des Waldes an die Klimaerhitzung als Heilsbotschaften ausgegeben werden zum Beispiel. Mal sollen es Baumarten vom Mittelmeer richten, mal neue Forstmethoden. »Von diesen Schnellschüssen halte ich nichts«, sagt Leila Reuter. »Wir wissen nicht, ob der Klimawandel nicht doch auch den Golfstrom verlagern wird und uns heiße, kurze Sommer und kalte Winter bringen wird. In der Forstwirtschaft planen wir für 200 Jahre.«
Das sind die Zeiträume, in denen eine Försterin denken muss. »Wir können ja viel planen, wollen und tun«, sagt sie. »Aber hier im Wald lernt man Demut. Die Natur ist ein geordnetes Chaos, sie zeigt uns den Weg.«
Buchdrucker heißt der Feind der Fichten: Die Gänge des Borkenkäfers in der Rinde sehen aus wie Buchstabenzeilen (links). Mit ihren Waldarbeitern bespricht Leila Reuter die Fällung von Lärchen (rechts). An Leila Reuters Lieblingsstelle an der Sonntagswiese im Lößnitzer Kirchenwald hat sie ein Messingschild auf einem Stein angebracht mit einem Vers aus der biblischen Schöpfungsgeschichte: »Da brachte die Erde alle Arten von Pflanzen hervor bis hin zu den großen Bäumen. Gott hatte Freude daran, denn es war gut.«
Die Försterin hält vor einer abgestorbene Buche gegenüber dem Stein inne. Tausende Arten haben in so einem toten Stamm Platz. Moose, Pilze, Insekten, der Baummarder, auch der Specht war schon da. Es ist ein Wunder.
Wald, Mensch und die Klimakrise
Akademie-Veranstaltungen für Erwachsene und Kinder zum Wald 18.–20. Juni 2021 // 15. April 2021
Wald steht für Schöpfung, Natur, grüne Lunge, Heimat und Rückzugsort, für Schauermärchen und Räuber, siegreiche Schlachten und Identität der Nation, für Poesie und Politik und Holzwirtschaft – in letzter Zeit aber auch für das Waldsterben als Spiegel des Klimawandels. Eine Tagung der Evangelischen Akademie Sachsen vom 18. bis 20. Juni im Klosterhof St. Afra Meißen blickt aus verschiedenen Perspektiven auf den Wald und seine gesellschaftliche Bedeutung, seine Vergangenheit und Zukunft und seinen Schutz als nachhaltige Mensch-Natur-Beziehung.
Junge Menschen und ihre Eltern können den Folgen der Klimakrise für den Wald am 15. April um 16:30 Uhr beim »Kind-Eltern-Forum« der Akademie im Evangelischen Schulzentrum Radebeul mit einem Förster auf die Spur kommen.