"Wir haben täglich kleine Wunder erlebt"

Während des Völkermords in Ruanda verloren rund 800.000 Menschen ihr Leben. Ein wütender Mob tötete Nachbarn, Freunde, Kollegen. Oftmals leben Täter und Opfer bis heute Tür an Tür. Eine ruandische Nichtregierungsorganisation bringt Täter und Opfer zusammen, damit sie den Weg der Versöhnung einschlagen können. Maria Richter aus Dresden hat zwei Jahre lang vor Ort mitgearbeitet.  

Text: Iris Milde // Fotos: Steffen Giersch, CARSA

Maria Richter traf Christophe Mbonyingabo 2010 während seiner ersten Deutschlandreise. „Komm doch mal vorbei“, sagte er damals zu ihr. Die gebürtige Sächsin war neben ihrem Studium in Bayreuth in der Studentenmission Deutschlands aktiv. Dort hatte sie sich mit Chinesen und Koreanern angefreundet. „Afrika war gar nicht in meinem Fokus. Da schwingt ja immer Entwicklungshilfe mit. Das hat mich nicht angesprochen.“ Doch als 2017 ein Freund die Koffer packte, um Christophe Mbonyingabos Einladung zu folgen, flog die Physikerin kurzentschlossen mit nach Ruanda. 

Das Land in Zentralafrika wirbt mit dem Slogan „Ruanda – Land der tausend Hügel“. Bananenstauden, Palmen, Akazien und Eukalyptus prägen die Landschaft. Maria Richter wohnte im Haus von Christophe Mbonyingabo, seiner Frau Diana und den fünf Kindern in der Hauptstadt Kigali. Unterwegs war sie aber meist in ländlichen Regionen westlich der Hauptstadt. Denn die Deutsche tauchte direkt in die Arbeit ihres Gastgebers ein. Christophe Mbonyingabo hatte mit einem Freund 2002 die Organisation CARSA gegründet. CARSA steht für Christian Action for Reconciliation and Social Assistance, auf Deutsch Christliche Aktion für Versöhnung und soziale Unterstützung. CARSA bringt Täter und Opfer des Völkermords von 1994 in Traumaheilungsseminaren zusammen. Ruandas Bevölkerung lebt mehrheitlich auf dem Land. Dort wohnen Täter und Opfer oft bis heute Tür an Tür. „Viele haben erzählt, dass sie die Straßenseite wechseln, wenn sie im Dorf dem Täter oder dem Opfer begegnen, oder sie biegen ab, drehen um, gehen wieder nach Hause. Sie vermeiden den Kontakt. Um sich durch Distanz vor den schrecklichen Erinnerungen zu schützen“, erinnert sich Maria Richter. 

Christophe Mbonyingabo und seine zehn Mitarbeiter wählen zusammen mit den jeweiligen Dorfvorstehern Paare aus, die weiterhin in einem tiefen Konflikt leben, jeweils ein Opfer und der zugehörige Täter. „Das hat mich immer gewundert, dass die Leute zu den Workshops gekommen sind“, sagt Maria Richter nachdenklich. „Aber als CARSA 2002 angefangen hat, haben die Leute schon eine Weile mit ihrem Schmerz oder ihrer Schuld gelebt. Am Anfang hofften sie noch, dass es mit der Zeit verblassen wird. Aber viele spürten tagtäglich die Folgen ihres Traumas. Sie litten unter dieser Belastung und wussten sich nicht zu helfen. Das Leid war einfach richtig groß geworden für manche.“ 

Maria Richter sitzt in ihrem Zimmer in Dresden. Vor ihr eine handgetöpferte Tasse mit ruandischem Schwarztee. Sie nippt an dem warmen Getränk mit Milch und zeigt auf ihrem Laptop Fotos aus den Workshops. Ein Mann steht mit ausgebreiten Armen in einer Gruppe bunt gekleideter Menschen. In jeder Hand hält er einen Stein. „Und dann wird gefragt: Wer kann am längsten diesen Stein halten. Alle denken, das kann doch jeder. Aber je länger man ihn hält, desto schwerer wird der Stein, bis man es irgendwann nicht mehr aushält.“ Auch das Leid der Opfer oder die Schuld der Täter wird mit der Zeit nicht weniger, sondern wiegt immer schwerer. „Da war ein Mann, ein Täter, der hat sich seit 1994 in seinem Haus verschanzt. Keiner wusste, ob der eigentlich wirklich lebt. Der hatte paar Leute, die ihn versorgt haben, aber er ist nicht rausgegangen, weil es ihn so quälte, was er getan hatte.“

Der Konflikt zwischen Tutsis und Hutu hat eine lange Geschichte, in der auch die Kolonialmächte Deutschland und Belgien mit ihrer Rassenlehre eine unheilvolle Rolle spielten. Im Frühjahr 1994 gipfelte er in landesweiten Massakern an den Tutsi, die später als Genozid in die Geschichte eingingen. Zwischen 800.000 und einer Million Menschen kamen binnen 100 Tagen ums Leben. Vor allem Angehörige der Tutsi, aber auch Hutu, die sich den Schlächtern entgegenstellten. Wie arbeitet man ein solch ungeheuerliches Verbrechen auf? „Es war ja die ganze Gesellschaft betroffen, man konnte nicht alle einsperren und verurteilen. Man musste einen Weg finden, wie man die Wahrheit ans Licht bringt und als Gesellschaft vernünftig weiterfunktioniert“, sagt Maria Richter.

Ruanda richtete sogenannte „Wiesengerichte“ ein, die Gacaca, d.h. die jeweilige Dorfgemeinschaft zog die Täter zur Verantwortung. Wer um Vergebung bat, konnte mit Strafmilderung rechnen. „In unseren Workshops waren viele“, erzählt Maria Richter, „die sagten:  Ich habe doch schon fünfmal um Vergebung gebeten, warum soll ich in einen Workshop gehen und zum siebten Mal sagen: Bitte vergib mir. Aber diese Leute haben schnell gemerkt, dass in den Seminaren von CARSA ein anderer Geist weht.“ Denn nur wer aus tiefstem Herzen um Vergebung bittet oder vergibt, der kann selbst innerlich heil werden. „CARSA ging es darum, dass die Leute frei werden von ihrer Last. In den Workshops wurde immer betont, dass man als Opfer als Allererstes um seiner selbst willen vergibt. Letztendlich leidet man unter dem Nicht-Vergeben und trägt schwer an der Bitterkeit und dem Hass.“ 


Maria Richter war bei den mehrtägigen Traumaheilungsseminaren als stille Beobachterin dabei. Für viele sind die Workshops der Beginn eines langen Heilungsprozesses. Wenn Täter und Opfer auf einem guten Weg sind, können sie eine Kuh bekommen, um die sie sich gemeinsam kümmern. Eine Kuh ist in Ruanda ein Sinnbild für Wohlstand.

Heilung braucht Aufarbeitung. Doch die meisten Betroffenen haben nie psychologische oder seelsorgerische Betreuung erhalten. In den Seminaren von CARSA erzählen sie ihre Geschichten den Mitarbeitern und schreiben sie auf kleine Zettel, Täter genauso wie Opfer. Die Zettel werden gefaltet, an ein Kreuz genagelt und dann in einer feierlichen Zeremonie verbrannt. Das Kreuz als Ort, wo einer den Schmerz versteht, aber auch als Symbol der Vergebung. „Ruanda ist ja ein Land, das zu über 90% Prozent christlich ist“, erzählt Maria Richter, „Glaube ist eine Sprache, die die Menschen verstehen.“ 

Die Zettel erzählen von gefolterten und ermordeten Eltern, Kindern, Geschwistern, von vergewaltigten Frauen, Massakern in Kirchen, bei denen mancherorts 30.000 Menschen auf einmal mit Macheten niedergemetzelt wurden. Auf Maria Richters Fotos ist ein Mann zu sehen, dessen Kopf durch tiefe Narben entstellt ist. Manche erzählen ihre Geschichte in den Seminaren von CARSA zum ersten Mal. „Der direkte Kontakt mit dem Opfer oder dem Täter. Das macht sehr viel aus. Manche Täter verstehen erst dann, was sie eigentlich angerichtet haben. Ihnen wurde ja eingeredet, dass es richtig ist, Tutsi zu töten.“ 

Auch nach den Seminaren treffen sich die Teilnehmer in den Dörfern regelmäßig. Nachbarn kommen wie in einem Schneeballsystem hinzu. Man erzählt sich gegenseitig, wie sich das eigene Leben nach dem Traumaworkshop von CARSA verändert hat. Gemeinsam mit ihren Kollegen ist Maria Richter Hunderte Kilometer über Buckelpisten gefahren, um diese Gruppen zu besuchen. „Einmal war in unserer Runde ein Platz leer geblieben. Während die anderen ihre persönlichen Geschichten erzählten, kam eine Frau, blieb am Eingang stehen und hörte uns zu. Und die Moderatorin fragte: ‚Willst du nicht reinkommen?‘ Die Frau sagte: ‚Nein, das schaffe ich nicht.‘ Und dann erzählte sie ihre Geschichte von der Tür aus. Neben dem für sie noch freien Platz saß der Mörder ihrer Kinder. Ich fand das so beeindruckend, dass sie genau wusste, wo ihre Grenze ist.“ An diesem Tag hat Maria Richter verstanden, wie wichtig Vergebung nicht nur für die Täter, sondern vor allem für die Opfer ist. „Die Frau sagte, dass sie sehen kann, wie erfolgreich die anderen in der Gruppe den Weg der Versöhnung gegangen sind und was das mit ihnen gemacht hat, wie frei sie sind. Das macht ihr Hoffnung für ihren eigenen Weg und deshalb kommt sie zu diesen Gruppentreffen.“

Eigentlich hatte Maria Richter nur wenige Wochen in Ruanda bleiben wollen. Aber die Arbeit von CARSA hat sie so fasziniert, dass sie insgesamt zwei Jahre für die Organisation arbeitete. Sie hielt den Kontakt zu Unterstützern im Ausland, schrieb englische Berichte über die täglichen Wunder der Versöhnung. Aber auch die Landessprache Kinyaruanda hat die Mittdreißigerin gelernt: „Es blieb mir nichts anderes übrig. Ich war immer die einzige Weiße. Für Smalltalk hat es am Ende gereicht, aber tiefergehende Gespräche waren schwierig.“

Inzwischen lebt sie wieder in Dresden, aber Ruanda begleitet sie noch immer. In Deutschland hält sie engen Kontakt zur ruandischen Community. Die hochgewachsene schlanke Frau steht auf und geht ins Nebenzimmer, wo ihre Mitbewohnerin Clarisse ihr deutsches Leben in drei großen Koffern verstaut. Die ruandische Hydrologin tritt eine neue Stelle in Hessen an. Maria hilft ihr beim Umzug. „Für mein persönliches Leben habe ich in Ruanda total viel gelernt. Es ist manchmal so schwer, sich zu entschuldigen oder zu vergeben. Aber es raubt mir ja Energie, wenn ich im Konflikt lebe. Und ich bin mit Hoffnung auf Versöhnung und Frieden zurückgekehrt. Christophe hat immer gesagt: Wenn Vergebung in Ruanda möglich ist, dann ist es überall möglich.“

CARSA - Christian Action for Reconciliation and Social Assistance 

 

Derzeit baut CARSA mit Hilfe von Spenden eine ungewöhnliche Gedenkstätte auf. Dort soll nicht vordergründig an die schrecklichen Ereignisse von 1994 erinnert werden. Christophe Mbonyingabo und sein Team wollen Geschichten der Versöhnung erzählen. Neben den Traumaheilungsseminaren geht CARSA mit Zeitzeugen in Schulen und bietet auch Seminare für die Angehörigen von Opfern und Tätern an. Beim „Kühe für den Frieden“-Projekt erhalten Täter und Opfer eine Kuh, die sie gemeinsam versorgen. Über diese Brücke bleiben sie in Kontakt und beiden Parteien geht es wirtschaftlich besser.  https://www.carsaministry.org/ 

"Laß es vergessen sein"

Die Sache mit der Versöhnung - Schreibwerkstatt unterwegs

 

 „Vor deiner Thüre steh' ich hier / Und bitte: Laß mich ein! / Ich sprach manch hartes Wort zu dir, / Laß es vergessen sein“, heißt es bei Stine Andresen, die Mitte des 19. Jahrhundert auf Föhr lebte und gerade in dieser Inselsituation sehr genau um die Bedeutung von Versöhnung gewusst haben dürfte. Selten ist Versöhnung leicht, manchmal ist sie unmöglich, aber auch da stellt sich die Frage nach Möglichkeiten jenseits von Hass und Gewalt. Unterstützt durch kreative und philosophische Impulse wollen wir uns im eigenen Schreiben dem Thema Versöhnung nähern. 

10. bis 12. November 2023 // FR-SO 

Ort: Kloster, Konvent & Kirche St. Albert Leipzig-Wahren, Georg-Schumann-Str. 336, 04159 Leipzig
Informationen und Anmeldung