Die Innenstadt ist weiblich

Onlinehandel und Shopping Malls zwingen immer mehr Läden in den Innenstädten zu schließen. Besonders
Kleinstädte haben mit der fortschreitenden Verödung ihrer Marktplätze und Fußgängerzonen zu kämpfen.
Die Kleinstadtladys in Borna haben die Trendwende geschafft.

Text: Iris Milde // Fotos: Steffen Giersch

Ulrike Stumpe an ihrem Stand auf dem Flohmarkt Klamotti in Borna, organisiert von den Kleinstadtladys. 

Verkäuferin Lisa-Marie Schmidt: »Die Kleinstadtladys rufen
vieles ins Leben, was es früher in Borna nicht gab.«

Anne Teichmann und Kathleen Czinkewitz verteilen Popcorn:
»Die krasse Arbeit ist ja im Vorfeld. Jetzt genießen wir das Event!«

Vor Ulrike Stumpe auf dem Tisch steht ein kleines Meer aus quietschbunten Plastikautos. Daneben mehrere Stapel Kindersachen, fein säuberlich zusammengelegt. »Es wird langsam viel zu Hause. Ein zweites Kind kommt nicht, deshalb muss das mal weg«, sagt sie. Ulrike Stumpe ist eine von Dutzenden Eltern, die an
diesem Tag im September in die Dinter-Sporthalle in Borna bei Leipzig gekommen sind, um geliebte Dinge zu verkaufen, denen die eigenen Kinder entwachsen sind. »Dass wir jetzt einen Flohmarkt hier vor Ort haben, finde ich schön. Früher sind wir ja immer sonst wohin gefahren.«

Der Flohmarkt Klamotti findet einmal jährlich statt. Gegründet haben ihn Anne Teichmann und Kathleen Czinkewitz 2020. Die jungen Frauen hatten sich in der Kita ihrer gleichaltrigen Töchter kennengelernt. »Wir haben uns getroffen und gemerkt, das passt total gut mit uns beiden«, erinnert sich Anne Teichmann. Gemeinsam besuchten sie verschiedene Veranstaltungen in und um Borna, unter anderem einen Flohmarkt in Frohburg. »Da haben wir uns gesagt: warum gibt es so etwas nicht in Borna? Deshalb haben wir mit Klamotti angefangen. Der Flohmarkt ist unser Baby.«

In der Halle läuft laute Partymusik, für die Kinder gibt es eine große Hüpfburg. Die beiden Freundinnen tragen den gleichen roten Bolero – Rot ist ihre Erkennungsfarbe, sehen perfekt gestylt aus und sprechen von Ladys statt Frauen, Kids statt Kindern oder Shopping statt Einkaufen. Sie schlendern durch die schmalen Gänge zwischen den unzähligen Ständen hindurch und kassieren Standgebühren, halten da und dort ein Schwätzchen oder umarmen eintreffende Besucher. Sie scheinen fast jeden hier zu kennen und jeder kennt sie. Denn sie sind der Kern der »Kleinstadtladys – Das Netzwerk für Borna«: »Wir sind ein Netzwerk von ganz vielen Frauen und sind viel in den Sozialen Medien unterwegs, wo wir auf Veranstaltungen in Borna und der Region aufmerksam machen«, erläutert Kathleen Czinkewitz. »Und wir haben ganz viele eigene Veranstaltungen.«

»Diesem Gefühl ›Hier ist ja nichts los‹ wollen wir krass entgegenwirken.« 

Anne Teichman


Denn auf ihrer Entdeckungstour stellten Anne Teichmann und Kathleen Czinkewitz, die beide nach Borna zugezogen sind, fest: »Es gibt so viele tolle Angebote, was man hier in der Region unternehmen kann. Aber davon erfährt man kaum«, meint Kathleen Czinkewitz, »wir dachten, das muss man mehr Ladys sagen!« Seitdem pflegen sie einen Instagram-Kanal mit knapp 3000 (vorwiegend) Followerinnen, auf dem sie erzählen, wo man gut essen gehen und was man mit Kindern unternehmen kann oder welche regionalen
Läden sie für sich entdeckt haben. »Es ist ja schnell gesagt: Hier ist nichts los. Aber diese Wahrnehmung stimmt oft nicht mit der Realität überein und deshalb versuchen wir, die aufzuknacken und zu zeigen: Guck doch mal, genau vor deiner Haustür findet das und das statt«, sagt Anne Teichmann.

Button mit dem Logo der Kleinstadtladys. Rot ist ihre Erkennungsfarbe. 

Toni Kretzschmar mit ihrem Verkaufshit, dem Otter, auf dem Flohmarkt Klamotti: "Ohne die Kleinstadladys wäre ich nicht hier."

Das Familienbüro der Kleinstadtladys in der Fußgängerzone von Borna. Dorthin kann dienstags jeder kommen mit seinen Anliegen für ein gutes Zusammenleben in in der Kleinstadt.

Auch Claudia folgt den Kleinstadtladys in den Sozialen Medien: »Wenn man selbst nicht die Zeit hat zu recherchieren, guckt man einfach rein, was am Wochenende los ist und kann sagen: Mensch, tolle Idee, ich fahr‘ hin.« Claudia ist geborene Bornaerin. Lange Zeit hatte die 20 000-Einwohner-Stadt keinen guten Ruf. In vier Tagebauen fraßen sich Braunkohle-Bagger durchs Erdreich. Kohlestaub lag in der Luft und saugte sich an Häuserfassaden fest. Die Restlöcher sind inzwischen geflutet und haben aus Borna eine Stadt in einer Seenlandschaft gemacht, die viele Familien aus Leipzig in die Region zieht. »Die Gebäude werden saniert,
alles ist schnell erreichbar. Die Infrastruktur ist auch gut«, zählt Claudia auf, was sie an Borna schätzt.

Inzwischen hat sie sich selbst den Kleinstadtladys angeschlossen: »Mir gefällt die lebensfrohe Art, die Stadt wieder zu beleben. Die Kleinstadtladys sind wirklich für die Stadt da und wollen etwas verändern.« Claudia gehört damit zu etwa zwei Dutzend »Ladys«, die den Frontfrauen Anne Teichmann und Kathleen Czinkewitz den Rücken stärken: »Auf die können wir uns verlassen, die tragen uns weiter, die liken uns in den Sozialen Medien, die bringen Freunde mit, die erzählen von uns, die verteilen Flyer. Wir können ja nicht allein die Halle füllen«, sagt Anne Teichmann. 

»Wir haben die Erfahrung gemacht, dass man ganz viel erklären muss. Kritik kommt oft, weil Dinge nicht gut kommuniziert sind.«

Kathleen Czinkewitz


Kathleen Czinkewitz schaufelt Popcorn aus der Popcornmaschine in Tütchen. Dank eines Sponsors können sie die Süßigkeit kostenlos an die Kinder verteilen, die auf den Flohmarkt kommen. Mit der Zeit habe sich nicht nur das Netzwerk vergrößert, die beiden Initiatorinnen dachten
sich auch immer mehr eigene Veranstaltungen aus. Ob die Tauschbörse Büchertauschrausch, das Volleyball-Turnier Ladysbeach, eine Glühwein-Pop-up-Bar oder ein festliches White Dinner unter freiem Himmel. »Wir sehen Dinge, es ergeben sich Dinge aus Gesprächen, wir denken manchmal quer, gucken nochmal über den Tellerrand hinaus – deswegen entstehen da so viele verschiedene Veranstaltungen einfach mit der Zeit«, sagt Anne Teichmann, »und das Gute ist: Die gibt es noch nicht in Borna. Wir können uns hier wirklich austoben und experimentieren.«

Ideen, Spaß am Netzwerken und immer ein einnehmendes Lächeln auf den Lippen – das ist das Erfolgsrezept der Kleinstadtladys. Sie betreiben Eventkultur, ohne niveaulos zu sein und treffen damit den Zeitgeschmack.
Darüber hinaus bemühen sie sich, kleine Läden und regionale Händler zu unterstützen, indem sie die Unternehmen auf Instagram oder Facebook vorstellen oder aus dem Einkauf ein Erlebnis machen, wie
beim VIP-Shopping. »Es gibt Ladys, die ein Business gründen wollen. Es gibt Ladys, die ein Business haben, vielleicht sogar mit ganz vielen Followern auf Instagram, von denen in Borna kaum einer weiß. Und dafür
sind wir da, die zu unterstützen und bekannt zu machen«, erklärt Kathleen Czinkewitz.

Zu Letzteren gehört Toni Kretzschmar. Die junge Frau näht Kuscheltiere in ihrer Werkstatt in Zedtlitz bei Borna. Ihr Stoffotter ist ein Star in den Sozialen Medien. Auch Toni Kretzschmar betreibt an diesem Tag einen
Stand auf dem Flohmarkt: »Ohne die Kleinstadtladys wäre ich nicht hier. Wir haben uns gesehen und fanden uns sofort toll und wenn ein Event ansteht, bin ich dabei. Oder beim Ladysbeach habe ich einen Otter verlost.« 

Auf dem Weihnachtsmarkt stellt der lokale Tourismusverein eine Hütte für regionale Händler oder Start-ups zur Verfügung. Jeden Tag kann dort ein anderes Unternehmen seine Produkte anbieten – kostenfrei. Die Kleinstadtladys motivieren vor allem kreative Newcomerinnen, sich dort einer breiten Kundschaft vorzustellen. »Es ist an der Zeit, dass in so einer Kleinstadt auch mal Frauen sichtbar werden«, argumentiert Anne Teichmann. »Nicht nur als Mütter, sondern auch als Businessfrauen.« Die Innenstadt sei ohnehin weiblich, denn meist seien es immer noch die Frauen, die einkaufen oder mit ihren Kindern ein Eis essen gehen. »Wir merken auch, dass wir da Initialzünder sind oder Motoren, die sagen, trau dich doch, starte doch was. Wir müssen nicht selbst ein Restaurant eröffnen, aber wir können die richtigen Leute zusammenbringen«. Einen Laden hätten sie damit vor der Schließung bewahrt, einem Restaurant zur Eröffnung verholfen.

Wer durch Bornas Innenstadt schlendert, sieht frisch sanierte Bürgerhäuser, aber auch immer noch viele leere Ladenlokale. In einem davon haben die Kleinstadtladys ihr Familienbüro eröffnet. Rot-weiße Ledermöbel um einen weißen Tisch, ein roter Kühlschrank im schicken Retrolook und am Schaufenster ein Bartisch mit roten Barhockern. Jeden Dienstag von 16.30 bis 19 Uhr bieten die Kleinstadtladys hier eine Bürgersprechstunde an: »Dorthin kann jeder Bornaer kommen und sagen, was er möchte und dann
kriegt er ganz viel erklärt«, sagt Kathleen Czinkewitz. »Wir machen oft die Erfahrung, dass Menschen mit schlechter Stimmung kommen, aber dann sagen: Ach so ist das! Die brauchen jemanden zum Reden, dass wir einen Kaffee zusammen trinken und so drehen wir auch viele Sachen.«

Das Angebot des Familienbüros richtet sich nicht nur an Familien oder Frauen, sondern an alle Bornaer. Die Kleinstadtladys betreiben es im Auftrag der Stadt. Denn Borna sollte Mittel aus dem Bundesprogramm
»Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren« erhalten. Die Ideen der jungen Frauen, was daraus in Borna finanziert werden könnte, und ihre zupackende Art überzeugten den Oberbürgermeister und den Stadtrat
so sehr, dass sie den Kleinstadtladys die Koordination des Programms für Borna übertrugen. So entstand an einer Ecke des Marktplatzes eine überdimensionale Bank aus Holz mit eingelassenen Blumenkübeln, auf der
etwa zehn Menschen Platz nehmen und sich gegenübersitzen können.

Den Bornaer Händlern wurden große, farbige Blumenkübel zur Verfügung gestellt, die sie individuell bepflanzen können: »Das ist eine scheinbar öde Geschichte«, sagt Kathleen Czinkewitz, »aber in Borna ist es echt durch die Decke gegangen.« Die Händler versuchten, sich gegenseitig zu übertrumpfen, wer die schönste Bepflanzung hat. Davon profitieren auch die Blumenläden in der Stadt, so Kathleen Czinkewitz. »Und zu jedem Fest ist es für die Händler nochmal so ein Highlight, ihren Blumenkübel neu zu gestalten.«

Neue Blumenkübel in der Bornaer Innenstadt, die die Händler selbst bepflanzen können. »Das ist eine scheinbar öde Geschichte«, sagt Kathleen Czinkewitz, »aber in Borna ist es echt durch die Decke gegangen.«

Marktplatz von Borna mit seinen sanierten Fassaden. Früher waren sie grau und staubig aufgrund der umliegenden Tagebaue. 

Neue Bank am Markt für Familien oder Gruppen. Eine Idee der Kleinstadtladys, die gern genutzt wird. 

 

Für ihr außergewöhnliches nebenberufliches Engagement wurden die Kleinstadtladys mit zwei hochdotierten Preisen ausbezeichnet. 2023 gewannen sie den Wettbewerb »Ab in die Mitte«. Nun stehen ihnen 40 Tausend Euro für ihr Projekt »Borna hellt Hof« zur Verfügung. »Die schönen kleinen Hinterhöfe sehen immer bisschen dunkel aus und Leute sagen, dass sie sich bei Dunkelheit nicht trauen, durch bestimmte Straßen zu gehen«, erklärt Anne Teichmann. Das soll sich im kommenden Jahr ändern. Derzeit wird ein Beleuchtungskonzept erarbeitet. 

2024 wurden die Kleinstadtladys außerdem Neulandgewinnerinnen. Damit erhalten sie weitere 50 Tausend Euro, um Bornas Innenstadt noch attraktiver zu machen. Ideen haben sie genug und – ist Anne Teichmann überzeugt: »Es kann nicht zu viel los sein in Borna.«