Der lange Weg nach Brünn
Nach Kriegsende wurden binnen weniger Tage nahezu alle verbliebenen Deutschen gewaltsam aus der mährischen Metropole Brünn vertrieben. Der jungen Generation in Brünn ist es zu verdanken, dass man sich inzwischen bewusst an dieses Ereignis erinnert und dass sich die Stadt bei den Opfern von damals entschuldigt hat.
Text: Iris Milde // Fotos: Jakub Šnajdr
Das Gras ist nach Wochen der Trockenheit fast verdorrt. Drei kleine Steinkreuze stehen wie zufällig verteilt auf der Wiese. 890 Tote liegen auf diesem Feld bei Pohrlitz (Pohořelice). Der Totengräber Julius Hofmann hatte die Anordnung, ein Massengrab auszuheben. Stattdessen grub er für jeden Toten ein Einzelgrab und legte ein Verzeichnis mit Grabnummer, Namen, Geburts- und Sterbedatum an. Dank dem Totengräber Julius Hofmann wissen Angehörige, was aus ihren Familienmitgliedern geworden ist. „Hier irgendwo liegt sie, die Tante Klimsa. Nummer 124 in den Totenbüchern“, sagt Barbara Breindl mit einer ausladenden Handbewegung. Die 84-Jährige trägt einen Strohhut auf dem Kopf, denn die Sonne brennt an diesem Julitag erbarmungslos vom Himmel. Barbara Breindl war sechs Jahre alt, als sie mit ihrer Familie und den anderen Deutschen am Abend des 31. Mai 1945 aus der Stadt getrieben wurde. „Wir wurden um halb sieben abends abgeholt und mussten uns versammeln. Und ich hatte ein Henkeltöpfchen zu tragen, aber ich war so müde. Ich habe das Henkeltöpfchen fallen gelassen –um Gottes Willen! Aber jemand hat es mir gegeben, von hinten nach vorne gereicht. An dieses erleichternde Erlebnis, daran erinnere ich mich.“
27.000 Deutsche mussten sich an diesem letzten Mai-Abend des Jahres 1945 auf dem Mendelplatz in Brünn versammeln. Frauen, Kinder, alte Menschen. Männer im arbeitsfähigen Alter und Jungen ab 14 Jahren waren zuvor in Arbeitslagern interniert worden. Mitten in der Nacht setzte sich der Menschenzug in Bewegung. Rotarmisten, Angehörige der Revolutionsgarden, Mitarbeiter der Brünner Waffenwerke trieben die müde Menge mit vorgehaltener Waffe Richtung österreichische Grenze. Die gewaltsame Aussiedlung der Brünner deutschen Bevölkerung ging als „Todesmarsch von Brünn“ in die Geschichte ein und war nicht das einzige, aber das brutalste Einzelereignis der sogenannten wilden Vertreibungen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Tschechoslowakei.
Damals entlud sich die aufgestaute Wut der Tschechen über die Gräuel, die die Nationalsozialisten in ihrem Land verübt hatten. 1938 hatte Hitler die Sudetengebiete an Deutschland angliedern lassen. Ein Jahr später griff er nach dem Rest des Landes und stellte es als Protektorat Böhmen und Mähren unter deutsche Verwaltung. Nachdem Reichsprotektor Reinhard Heydrich im Juni 1942 Opfer eines Attentats geworden war, rächten sich die Nationalsozialsozialisten, indem sie die Dörfer Lidice und Ležáky dem Erdboden gleichmachten und gnadenlos Jagd auf Oppositionelle machten. „Ich kann mich erinnern, dass ich die Schüsse vom Hinrichtungsplatz gehört habe, wenn ich im Sandkasten spielte“, erinnert sich etwa die gebürtige Brünnerin und Publizistin Alena Wagnerová.
Der Brünner Todesmarsch fand sein vorläufiges Ende in einer Lagerhalle auf dem Feld hinter Pohrlitz, etwa 30 Kilometer von Brünn entfernt. „Meine Mutter ist reingegangen“, erzählt Barbara Breindl. „Dort hat sie die Tante Klimsa gefunden. Die war über 70. Und die Tante Klimsa sagte: ‚Ich bin schon Witwe.‘ Sie hat ihren Mann tot oder sterbend unterwegs liegen lassen müssen, denn man durfte nicht stehen bleiben. Und sie selber ist dann drei Wochen später an der Typhusepidemie gestorben.“
5.200 Menschen, so schätzen Historiker, sind während des Brünner Todesmarschs durch Erschöpfung, Hunger, Durst, Vergewaltigung und andere Gewaltakte der Bewacher sowie Krankheiten ums Leben gekommen. Etliche liegen unter unseren Füßen. An diesem 23. Juli 2022 sind etwa 150 Menschen nach Pohrlitz gekommen, um ihrer zu gedenken. Petr Kalousek, Direktor des Festivals Meeting Brno, tritt ans Mikrophon: „Wir stehen an dem Ort, an dem vor 77 Jahren der sogenannte Todesmarsch endete. Seit 2015 gehen wir den Weg, den die Menschen damals gelaufen sind, in umgekehrter Richtung. Damit bringen wir die deutschsprachige Bevölkerung symbolisch wieder zurück in – ich erlaube mir zu sagen – unsere gemeinsame Stadt.“
Gedenken in Pohrlitz (Foto: Iris Milde)
Auf der alten Wiener Straße
Petr Kalousek (m.) und Jaroslav Ostrčilík (r.)
Gedenkstein im Mendelkloster von Brünn
Im Rahmen des Festivals Meeting Brno findet jedes Jahr im Sommer neben zahlreichen Veranstaltungen auch der sogenannte „Versöhnungsmarsch“ statt. An der Spitze des Zugs geht Jaroslav Ostrčilík. Er läuft die Strecke zum 17. Mal. „Die Idee war, den Verlauf des Todesmarsches von 1945 so gut wie möglich nachzugehen. Aber 50 Prozent des Weges gibt es heutzutage physisch nicht mehr, dieser Teil ist jetzt eine Autobahn. Aber die erste Hälfte des Weges gehen wir tatsächlich auf der sogenannten alten Wiener Straße.“ Jaroslav Ostrčilík spricht Deutsch mit österreichischem Akzent. Der Enddreißiger ist in Tschechien geboren, aber in Österreich aufgewachsen. Als Student kam er nach Brünn und merkte, dass das Thema Vertreibung dort ein Tabuthema war. „Die Hälfte der Bevölkerung, ihre Geschichte, die zweisprachige Identität der Stadt war mit der Vertreibung bewusst vergessen worden.“ Jaroslav Ostrčilík ging 2005 die Trasse des Brünner Todesmarsches gemeinsam mit Kommilitonen nach, damals noch von Brünn nach Pohrlitz. Das wiederholten sie jedes Jahr.
Die Asphaltstraße führt schnurgerade durch ausgetrocknete Felder. Die Sonne brennt vom Himmel, es sind knapp vierzig Grad. Auch die ersten Junitage vor 77 Jahren müssen unerträglich heiß gewesen sein. Die Menschen schleppten ihr Hab und Gut am Leib und in Koffern mit sich. Welche Qual muss allein das gewesen sein, dazu die Angst vor der Ungewissheit? Das hat sich auch die Schriftstellerin Kateřina Tučková gefragt. Deshalb ist sie den Weg von Brünn nach Pohrlitz mit einem vollgepackten Kinderwagen gegangen. Ihre Eindrücke hat sie in dem 2009 erschienenen Buch Gerta. Das deutsche Mädchen veröffentlicht. Das Buch hat in Tschechien eine kontroverse Debatte ausgelöst. „Die Reaktionen auf den ersten Lesungen waren sehr ablehnend, weil die Menschen nicht akzeptieren konnten, dass ich das Kriegsende mit den Augen eines deutschen Mädchens beschreibe, und sie meinten, dass dieses 21-jährige Mädchen und ihr sechs Monate altes Baby ein solches Schicksal gewissermaßen verdient hätten.“
Kateřina Tučková und Jaroslav Ostrčilík stehen namentlich für immer mehr junge Menschen in Tschechien, die sich mit der Geschichte rund um die Vertreibung beschäftigen. Dafür wurden sie hart angegriffen. „Man hat mir vorgeworfen, ich würde die Naziverbrechen verharmlosen“, erinnert sich Jaroslav Ostrčilík, „aber uns ging es allein darum, an ein Schlüsselereignis in der Geschichte der Stadt zu erinnern.“ Bereits im Jahr 2000 forderten Studenten die Stadt Brünn auf, sich bei den Opfern des Todesmarschs zu entschuldigen. Doch erst 2014 mit der Wahl einer neuen Stadtregierung, zu der auch der jetzige Direktor des Festivals Meeting Brno, der parteilose Kommunalpolitiker Petr Kalousek gehörte, wendete sich das Blatt. „Ich habe vorgeschlagen, dass wir zum 70. Jahrestag der Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung aus Brünn im Jahr 2015 als Stadt etwas organisieren. So initiierten wir das Jahr der Versöhnung.“ Das Festival Meeting Brno wurde gegründet, der Gedenkmarsch fand das erste Mal in umgekehrter Richtung von Pohrlitz nach Brünn statt und die Stadt Brünn entschuldigte sich offiziell bei den Opfern des Brünner Todesmarsches. Brünn ist bisher der einzige Ort in Tschechien, der diesen Schritt der Versöhnung gegangen ist.
In Ledce ist ein Drittel des Weges geschafft. Am Kreisverkehr in der Ortsmitte gibt es für die Marschteilnehmer Suppe und kühle Getränke. Zuzana Frimmlová liegt auf ihre Ellbogen gestützt auf der Wiese. Die junge Tschechin nimmt schon das dritte Mal an dem Versöhnungsmarsch teil. „Mir gefällt, dass die Menschen sich hier gemeinsam an die Ereignisse erinnern. Wenn ich in meiner Heimatstadt Ostrava mit jemandem darüber reden wollte, würde man mich erstaunt anschauen.“
Der letzte Teil des Weges führt durch Industriegebiete, direkt an der großen Einfallsstraße nach Brünn entlang. Am Rande der Innenstadt werden die Wanderer von einer Menschenmenge erwartet. Darunter sind Politiker und Zeitzeugen. Die letzten anderthalb Kilometer bis zum Mendelplatz gehen sie mit den Marschteilnehmern gemeinsam. Plötzlich ertönt die tschechische Nationalhymne. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite recken etwa 20 Demonstranten ein Transparent mit dem Schriftzug „Heim ins Reich“ in die Höhe. Festivaldirektor Petr Kalousek kennt die Szene aus den vergangenen Jahren: „Wenn Extremisten, ob Neonazis oder Kommunisten, gegen etwas, das wir tun, protestieren, dann denke ich, tun wir genau das Richtige.“
Barbara Breindl lebt seit 17 Jahren wieder in ihrer Geburtsstadt. „Ich bin eine der Exoten, die zurückgekehrt sind.“ Hat sie jemals Ablehnung erfahren? Sie schüttelt energisch den Kopf. „Außer im Haus. Da war so ein Mann, der fragte mich, woher ich komme und als ich es ihm sagte, brüllte er mich an: ‚Verschwinden sie von hier!‘. Jetzt küsst er mir die Hand. Ja, so ändern sich die Zeiten.“
Der Versöhnungsmarsch findet jährlich im Sommer im Rahmen des Festivals Meeting Brno statt. Nähere Informationen in deutscher Sprache sowie das Festivalprogramm finden Sie unter: https://www.meetingbrno.cz/de/events/versoehnungsmarsch-2023/ Wer nicht den gesamten Weg nach Brünn laufen möchte, kann sich unterwegs anschließen, streckenweise mit dem Bus fahren oder nur an den feierlichen Gedenkveranstaltungen am Morgen in Pohrlitz und/oder am Abend auf dem Mendelplatz in Brünn teilnehmen.
Die Kraft der kulturellen Vielfalt
Das „liebliche Mähren“ steht im Schatten seiner bekannteren böhmischen Schwester. Dabei hat die Region mit bezaubernder Natur, faszinierenden Metropolen und malerischen Kleinstädten viel zu bieten.
Wir werden einen Exkurs in die Geschichte des Landes vom Großmährischen Reich über die Tschechoslowakische Republik bis in das heutige Mähren in der Tschechischen Republik unternehmen und uns mit Kultur und Literatur ebenso beschäftigen wie mit den deutsch-österreichisch-mährischen Gemeinsamkeiten im heimatlichen Europa.
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Studienreise nach Mähren: Liebenswerte Entdeckung im Herzen Europas
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