Die Friedliche Revolution war kein Selbstläufer. Damit im November 1989 Tausende in ostdeutschen Städten demonstrieren konnten, brauchte es mutige Wegbereiter. Menschen, die sich trotz Einschüchterung trauten, Freiheit und Demokratie einzufordern. Eine von ihnen ist Gesine Oltmanns.
Text: Iris Milde // Fotos: Iris Milde, Steffen Giersch
Die zierliche Frau mit den dunklen Haaren steht auf der Empore und schaut zuerst in das Gewölbe der Leipziger Nikolaikirche mit den markanten Palmenwedeln, dann hinunter auf die Bänke im Kirchraum. Auch nach 35 Jahren ist sie sichtbar ergriffen. »Das war irre. Von einer Woche auf die andere waren hier Massen von Leuten bei den Friedensgebeten.« Gesine Oltmanns war eine von denen, die die montäglichen Friedensgebete vorbereiteten. In den schützenden Mauern des Gotteshauses konnten sie informieren über das, worüber die staatstreuen Medien in der DDR nicht berichteten: über den Raubbau an natürlichen Ressourcen, politisch motivierte Festnahmen und Protestaktionen in der ganzen DDR. Noch immer hängt das handgemalte runde Plakat mit der Aufschrift »Schwerter zu Pflugscharen – Friedensgebet in St. Nikolai jeden Montag 17 Uhr« an einer Tafel in der Kirche.
Gesine Oltmanns geht auf die hinteren Säulen am Eingang zu. »Hier haben wir immer gestanden und auf unseren Auftritt gewartet.« 1983 kam die junge Frau von Wechselburg nach Leipzig. Da war sie beim DDR-Regime bereits in Ungnade gefallen. Als Schülerin weigerte sie sich, am neu eingeführten Wehrkundeunterricht teilzunehmen. »An dieser Sinnlosigkeit einer zivilen Aufrüstung wollte ich mich nicht beteiligen«, begründet das die Pfarrerstochter, »aber das hatte wirklich harsche Folgen.« Zwar konnte sie ihr Abitur ablegen, danach erhielt sie jedoch weder einen Studien- noch einen Ausbildungsplatz. In der Jungen Gemeinde in der Nikolaikirche
fand sie Freunde und entdeckte die Friedensgebete: »Einmal in der Woche Gleichgesinnte
zu treffen war eine Wohltat. Damit konnte man den Rest der Woche überleben.«
»Einmal in der Woche Gleichgesinnte zu treffen war eine Wohltat. Damit konnte man den Rest der Woche überleben.«
Auf dem Markplatz in Leipzig versammelten sich am 15. Januar 1989 Hunderte Menschen zu einer Demonstration. Gesine Oltmanns saß zu dieser Zeit schon in Untersuchungshaft.
Am 4. September 1989 entrollten Gesine Oltmanns (l.) und Katrin Hattenhauer (r.) nach dem Friedensgebet ein Transparent. Das gilt als Start der Montagsdemonstrationen.
Foto: Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V. / Bernd
Heinze_Foto 006-007-092
Das Plakat »Schwerter zu Pflugscharen« ist noch
immer in der Nikolaikirche zu sehen.
Es waren die kleinen Nadelstiche, die oppositionelle Gruppen und Einzelpersonen dem Regime versetzten und für die sie oft bitter bezahlten. Für den 15. Januar 1989, den Jahrestag der Verhaftung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts im Jahr 1919, wollten Gesine Oltmanns und
ihre Mitstreiter zu einer Demonstration auf dem Leipziger Markt aufrufen. Doch die Stasi hatte Wind von den Plänen bekommen und nahm Gesine Oltmanns und zwölf ihrer Weggefährten in den Tagen davor fest. Aufgrund einer ungeheuren Solidaritätswelle im In- und Ausland und auf
Druck Hans-Dietrich Genschers mussten die Verhafteten nach wenigen Tagen entlassen werden. »Das war ein Riesenerfolg für uns und die Stasi hat sich extrem gegrämt, wie man in den Akten lesen kann.« Was Gesine Oltmanns im Inneren des Stasigefängnisses erlebt hat, kann man nur
erahnen, wenn sie von der ersten Begegnung mit ihren Eltern nach der Freilassung spricht: »Meine Mutter erzählt heute noch, dass ich ihr entgegengeschlurft und in ihre Arme gesunken wäre und gesagt hätte: ›Ich dachte, man kann es aushalten‹. Aber dann solche Arme zu haben, die einen auffangen, das ist ganz wichtig.«
»Das war ein Riesenerfolg für uns und die Stasi hat sich extrem gegrämt, wie man in den Akten lesen kann.«
Die Demonstration am 15. Januar konnte die Stasi trotz der massiven Einschüchterung nicht verhindern. »Das war eigentlich das Tollste. Ich kam aus dem Gefängnis raus, traf den ersten Menschen und der sagt: Es waren mehrere Hundert Leute da. Und ich dachte, das kann nicht
sein !« Trotz ihrer Erfahrungen im Gefängnis: Aufgeben kam für die junge Frau mit der schmalen
Gestalt und der leisen Stimme nicht in Frage. »Wir waren ja ermutigt. Wir haben gemerkt, dass durch sehr viel Solidarität Leute entlassen werden können.«
Plötzlich in der Tagesschau
Gesine Oltmanns schaut sich auf dem Marktplatz von Leipzig um. Dann sagt sie: »Aber das Rührendste war ja der 15. Januar dieses Jahres.« Kurz nach Bekanntwerden der geheimen
Treffen von Rechtsextremen in Potsdam und deren Remigrationsplänen fand in Leipzig eine Spontandemonstration statt. »35 Jahre später gehe ich mit mehreren Tausend Leuten über
den Ring. Und es ist wieder der 15. Januar. Das war irre !« Der Januar 1989 hat Gesine Oltmanns tief geprägt. Aber bundesweite Bekanntheit erlangte sie ein halbes Jahr später am 4. September. Die Öffnung der österreichisch-ungarischen Grenze hatte eine Ausreisewelle aus der DDR in Gang gesetzt. »Wir wollten zeigen: Wir sind noch da und wir wollen hier etwas erreichen !« Nach dem Friedensgebet entrollten Gesine Oltmanns und ihre Freundin Katrin Hattenhauer ein beschriebenes Bettlaken: »Für ein offnes Land mit freien Menschen«. Zufällig filmte dies der ARD-Korrespondent Horst Hano und auch, wie Männer in Zivil den Jugendlichen das Transparent
entrissen. Die Aufnahmen wurden wenige Stunden später in der Tagesschau gesendet. »Da haben die Leute gesehen – auch im Osten, denn man guckte ja Westfernsehen – das sind ganz junge Mädels und denen wird brutal das Plakat weggenommen«, erzählt Gesine Oltmanns ehrlich entrüstet. »Das hat viele erschüttert: Wie geht der Staat gegen seine eigene Jugend vor? Das sind doch nicht alles Rowdys !«
»Da hast du Leute vor dir, die das erste Mal ihr Urteil aus den 50er Jahren in die Hand bekommen, das sie nie gesehen haben. Das hat mich ganz klein gemacht.«
Der vierte September gilt als Startpunkt für den Revolutionsherbst 1989. Jede Woche kamen mehr Menschen zu den Friedensgebeten und anschließenden Montagsdemonstrationen. Am Ende war es die schiere Masse jener, die sich auf die Straße trauten, die das Regime kapitulieren ließ. Gesine Oltmanns biegt in den Hinterhof der Runden Ecke ein, früher die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit, heute eine Gedenkstätte. Sie deutet auf ein paar Garagen: »Hier standen die Kollermaschinen, die die Akten zu einem Brei verkollert haben.« Von 1990 bis 1994 arbeitete Gesine Oltmanns als Sachbearbeiterin bei der Leipziger Außenstelle der Staisunterlagenbehörde und betreute die Rehabilitierungsverfahren politisch Verfolgter aus DDR-Zeiten. »Da hast du Leute vor dir, die das erste Mal ihr Urteil aus den 50er Jahren in die Hand bekommen, das sie nie gesehen haben. Das hat mich ganz klein gemacht. Da spielte das, was ich erlebt hatte, keine Rolle mehr.« Ihre eigene Stasiakte hat Gesine Oltmanns erst Jahre später gelesen. »Ich dachte, ich sei inzwischen gelassen genug, aber das hat mich ganz schön runtergezogen. Mich hat erschüttert, wie ausgeweitet die Überwachung war.«
Gesine Oltmanns vor der Runden Ecke, wo sie
im Stasiunterlagenarchiv gearbeitet hat. Heute
unterstützt die Bürgerrechtlerin den Freiheitskampf in der Ukraine.
In der Denkmalwerkstatt hat die Stiftung
Friedliche Revolution ihren Sitz.
Absprachen für die szenische Umsetzung des Wendekinderbuches »Fritzi war dabei« in der
Denkmalwerkstatt.
Sie zeigt auf den riesigen Plattenbau nebenan, den sogenannten Stasi-Neubau, und schüttelt den Kopf: »Der wurde dann sehr schnell zum Arbeitsamt. Da standen die Leute Anfang der 90er Schlange, um sich arbeitslos zu melden. Dass die Leute diese Demütigung an so einem Ort erleben mussten, war extrem unsensibel.« Im Rückblick sei es traurig, dass 1990 alles so schnell gehen musste, die Einführung der D-Mark und die Wiedervereinigung. »Ich glaube, dass auch vieles heute noch daran krankt. Das muss man ja lernen, Staatsbürger zu werden !« Trotz aller Schwierigkeiten beim Zusammenwachsen der beiden Staaten: Dass der Sturz des DDR-Regimes notwendig war, steht für sie außer Zweifel. »Die eigentliche Errungenschaft war der Sieg über die Diktatur. Was sich daraus entwickelt, ist ja ein Gestaltungsprozess, der wieder für sich steht.«
Als sie nachts davon träumte, die Stasiakte des Stardirigenten Kurt Masur gefunden zu haben, hängte sie ihren Job in der Gauck-Behörde an den Nagel und widmete sich voll und ganz der Familie. Neun Kinder kamen zur Welt, mit denen sie heute gemeinsam auf Demonstrationen geht. »Wir müssen uns als Ältere einmischen und die jungen Leute stärken !«, ist sie überzeugt. 1989 konnte jede öffentliche Meinungsäußerung im Verhörraum enden. Es brauchte viel Mut sich aufzulehnen. Vermisst Gesine Oltmanns heute manchmal diesen Mut ? »Ich finde es sehr, sehr mutig, wenn sich jemand in Stollberg auf die Straße stellt und gegen die AfD demonstriert, wo
Menschen wirklich angegriffen werden, weil sie eine andere Meinung vertreten.«
»Ich finde es sehr, sehr mutig, wenn sich jemand in Stollberg auf die Straße stellt und gegen die AfD demonstriert, wo
Menschen wirklich angegriffen werden, weil sie eine andere Meinung vertreten.«
Seit der Gründung der Stiftung Friedliche Revolution im Jahr 2009 ist Gesine Oltmanns wieder unermüdliche Botschafterin der Errungenschaften von 1989. »Ich sehe es auch als meine Aufgabe, die Sensibilität für Menschenrechte und Demokratie weiterzugeben.« Sie ist eine, die Dinge anstößt, aber ungern in der ersten Reihe steht: »Ich fühle mich am wohlsten, wenn ich gemeinsam mit anderen etwas bewege. 1989 waren wir viele.« Sinnend schaut sie auf den asphaltierten Platz im Hinterhof der Runden Ecke. An diesem Ort fand ein Teil des Festivals Revolutionale statt, das die Stiftung im Jahr 2021 ausgerichtet hat. »In diesem Koloss von Stasiburg saßen vormittags Kinder und sahen einen Film über die Friedliche Revolution und am Abend diskutieren Menschenrechtler über die Menschenrechtssituation in Europa. Das kann ich
manchmal nicht fassen, wie toll das ist, dass das heute geht. Dafür hat es sich gelohnt zu kämpfen !«
Bürgerrechtlerin bis heute
Plaudernd spaziert Gesine Oltmanns durch die Passage »Speck’s Hof« zurück in die Denkmalwerkstatt, wo die Stiftung Friedliche Revolution ihren Sitz hat. An den Wänden hängen bunte Tafeln zum derzeit größten Projekt der Stiftung. Im Leipziger Zentrum soll ab 2025 ein nationales Freiheitsund Einheitsdenkmal entstehen. Die Stiftung Friedliche Revolution wurde auf der Grundlage eines Bundestagsbeschlusses beauftragt, dessen Umsetzung zu organisieren. Für Gesine Oltmanns soll das Denkmal »einmal den Mut der Menschen würdigen und wir wünschen uns auch, dass die Friedliche Revolution mehr in den europäischen Zusammenhang gestellt wird, eingebunden in die Freiheitsbewegungen Mittel- und Osteuropas.« Dass viele der ehemaligen
Ostblockstaaten derzeit im Hinblick auf demokratische Freiheiten und Rechtsstaatlichkeit eher den Rückwärtsgang eingelegt haben, ist für die Jeanne d’Arc von Leipzig schwer zu ertragen: »Das nimmt mich schon mit, wenn manche aus der Geschichte überhaupt nichts lernen wollen.« Aber Resignieren war für Gesine Oltmanns nie eine Option. »Dass der Moment der Friedlichen
Revolution ein großer, starker, glücklicher war, das sollte man sich unbedingt bewahren.«