»Lasst uns einander nicht in Schubladen pressen«
Es wäre leicht, die Schriftstellerin Kerstin Hensel und den Brauerei-Ingenieur Luis Mazuze in Identitäts-Kästchen einzusortieren: Frau und Mann, Weiße und Schwarzer, Künstlerin und Ingenieur, Christ und Nicht-Christin. Dabei haben sie viel mehr, was sie vereint – ein Gespräch
Fragen: Andreas Roth // Fotos: Steffen Giersch
Sprache kann die Identität eines Menschen zeigen – Sie, lieber Herr Mazuze, stammen aus Mosambik und sprechen Sächsisch. Bei Ihnen, liebe Frau Hensel, vermischt sich das Sächsische mit dem Berlinerischen. Was sagt das?
Luis Mazuze: Sprache ist der Schlüssel der Kommunikation. Wenn man angekommen ist, verfärbt sich die Sprache. Ich bin in Sachsen angekommen.
Kerstin Hensel: Als Schriftstellerin ist Sprache natürlich wichtig für mich, doch der Begriff Identität kommt mir nicht leicht aus dem Mund. Identitäten setzen sich aus ganz vielen Dingen zusammen – und dann bin ich noch immer nicht identisch mit irgendetwas.
Was sind denn die Puzzlestücke, die Sie und Ihre Identität ausmachen?
Mazuze: Das war früher wichtig für mich, danach zu fragen. Jetzt bin ich aus diesen Zwängen heraus. Ich suche überhaupt nicht nach meiner Identität. Ich finde es wichtig, dass ich mit vielen Menschen mit ganz unterschiedlichen Identitäten kommunizieren kann, ohne es auf mein eigenes Ich zu beziehen. Damit ich wirklich offen bin und das Neue Platz hat.
Hensel: Heute werden ja oft Identitäten beschworen. Zum Beispiel: Ich soll eine ostdeutsche Identität haben? Nein, ich konnte mich noch nie mit dem so genannten DDR-Bürger in eins setzen. Ich fand diese Pauschalisierung immer furchtbar. Mich interessieren einzelne Menschen in all ihren Facetten, aber nicht in einer Zuschreibung.
Man könnte Sie ja auch leicht in eine Schublade stecken, Frau Hensel: in Karl-Marx-Stadt geboren, Frau, Schriftstellerin …
Hensel: In vielen Besprechungen meiner Bücher werden Schubladen aufgemacht: Das ist der ostdeutsche oder der weibliche oder der sächsische oder der weiße oder der grünkarierte Blick … Das sind alles eng gedachte Klischees. Es wird selten gesehen, dass Menschen in einer Welt leben, die nicht aus Festgefügtem besteht. Schon gar nicht heute.
Haben Sie auch Erfahrungen mit solchen Schubladen, Herr Mazuze?
Mazuze: Es gibt Menschen, die sagen: Du bist ein Afrikaner, ein Schwarzer. Aber ich lasse es einfach nicht zu. Gott hat ganz am Anfang in der Bibel über sich gesagt: »Ich bin, der ich bin« – lasst uns so einander begegnen, wie Gott es gesagt hat. Lasst uns so sein, wie wir sind. Und nicht einander in Schubladen pressen.
Sie kamen 1980 aus Mosambik in die DDR und sollten in einem Bereich arbeiten, den viele Deutsche sehr zu ihrer Identität rechnen: in einer Brauerei. Vom einfachen Arbeiter wurden Sie zum Technologischen Leiter. Haben Sie auf Ihrem Weg mit Rassimus zu kämpfen?
Mazuze: Natürlich. Auf Arbeit und im Studium kaum. Doch gerade die Jahre um 1991 waren eine sehr heiße Zeit. Damals standen nachts in der Dresdner Neustadt plötzlich 20 schwarz angezogene Männer in Stiefeln vor mir und brüllten: »Ausländer raus!«. Einer von denen fragte mich: »Wohin gehst du?« Ich sagte: »Nach Hause.« Er fragte: »Nach Afrika?« – »Nein, ich war auf Arbeit und gehe nach Hause, ich wohne hier.« Er fragte: »Warum rennst du nicht weg?« – »Warum sollte ich wegrennen? Ihr seid doch Menschen und keine Tiere.« In dem Moment merkte ich, jetzt kann nichts mehr passieren. Es hätte schlimm ausgehen können.
Das Thema Identitäten wird heute heiß diskutiert. Von rechts mit einer nationalistischen Wendung – und von links wird gefordert, Identitäten in der Sprache sichtbar zu machen mit Gender-Sternchen oder Abkürzungen wie POC für Menschen mit dunkler Hautfarbe. Ist Ihnen das wichtig?
Mazuze: Das ist für mich unwichtig. Ich nutze die Sprache als Bindemittel, um mit vielen Menschen zu kommunizieren. Ich will eine Brücke sein – keine Barriere. Ich will Offenheit schaffen. Und mich nicht irgendwo hineinpressen.
Hensel: Ich werde, so lange ich lebe, nicht gendern, auch wenn ich mitunter dazu gedrängt werde. Eifernde Sprachänderer haben meines Erachtens ein naives Verständnis von Sprache, nämlich dass oktroyierte Sprachkorrekturen bestehende Missstände lösen können. Doch wird etwas zum Zwang, schafft es Unverständnis, Verdruss und Feinde.
Spalten die Debatten um Identität am Ende?
Mazuze: Es ist wichtig, dass sich jeder Mensch äußern kann ohne Angst. Wie auch immer sein Geschlecht ist oder seine Lebenserfahrung. Diese Freiheit für Identitäten ist wichtig. Aber wir müssen vorsichtig sein, wie wir das sprachlich transportieren, ohne jemanden zu verletzen. Ohne, dass die Sprache tötet.
Hensel: In den Identitätsdiskussionen wird oft so getan, als würde man mit kategorischer Zuordnung der Menschen Gleichheit und Gerechtigkeit schaffen. Das Gegenteil ist der Fall. Unsere Gesellschaft ist aufgrund dieses geistig engen Gebarens schon jetzt auf bestimmten Gebieten gespalten. Das ist schädlich. Man sollte sich den wirklichen Fragen der Menschheit stellen.
Ist die Hervorhebung von Identitäten auch eine Gegenbewegung zu den Werten der Aufklärung, die die universale Gleichheit der Menschen betont?
Hensel: Ja, leider muss man heute die freiheitlichen Werte der Aufklärung wieder verteidigen. Das heißt nicht, dass ich meine: Alle Menschen sind wesensgleich. Jeder ist verschieden, jede Kultur ist anders, und das finde ich spannend. Unterschiede sollten weder ignoriert werden, noch die Menschen trennen. Ich sage: Seid offen, neugierig; guckt mehr aus dem Fenster als in den Spiegel!
Mazuze: Gott hat die Welt geliebt, so wie sie ist, so bunt. Diese Trennung in Identitäten, die wir suchen, davon hat schon Gott in der Bibel gewusst: Das schafft eher Spannungen und Konflikte. Aber wenn wir uns offen begegnen und mehr versuchen, voneinander zu lernen, dann werden wir reicher.
Hensel: Ja, doch das setzt innere Freiheit und Souveränität voraus. Man wird nicht damit geboren, sondern muss das lernen. Ich habe mir diese Haltung mit Hilfe von Freunden und Weggefährten erarbeitet. In meiner Herkunftsfamilie wurde so nicht gedacht, und es war kein einfacher Weg für mich, anderes zu begreifen. Trotzdem ist es so, dass jeder Mensch auch eine Zugehörigkeit haben will. Man muss sagen können: Da gehöre ich hin. Gleichgesinnte, Freunde, Familie. Aber das heißt nicht, dass ich identisch bin mit ihnen.
Mazuze: Heimat hat zwei Seiten. Es gibt die äußerliche Heimat, wo ich mich wohlfühle mit meiner Familie, und die hat Grenzen. Und es gibt eine innere Heimat. Die ist von Gott und kennt keine Grenzen. Wenn ich die gefunden habe, schaue ich auch bei Anderen nicht danach, woher sie kommen und wie sie leben – sondern wir sind eins. Da lösen sich die Differenzen auf.
Hensel: Ich bin zwar kein gläubiger Mensch, doch das kann ich nachvollziehen, auch wenn ich andere Begriffe als Gott verwende. Die christliche Kultur gehört zu mir als Mensch und Künstlerin. Ohne ihre Kenntnis könnte ich nicht schreiben
Identität klingt statisch. Fühlen Sie sich irgendwo angekommen?
Mazuze: Das Leben ist ein Weg. Angekommen ist man erst dann, wenn Schluss ist. Man muss immer in Bewegung sein, es gibt dabei Höhen und Tiefen und immer neue Überraschungen. Schöne und Böse.
Hensel: Man muss nicht immer aufs eigene Ego sehen. Es gibt aktuell diesen Zwang, ständig auf sich aufmerksam machen zu müssen. Sich immer um sich selbst zu drehen, ist doch langweilig. Mazuze: Und außerdem führt es nur dazu, dass man sich selbst isoliert
Luis Mazuze (60) ist Ingenieur und Technologischer Leiter in der Feldschlößchen-Brauerei Dresden. Der Vater von vier Kindern und Großvater von vier Enkeln kam 1980 aus Mosambik als Vertragsarbeiter in die DDR und gründete den Dresdner Verein Afropa e. V. mit
Kerstin Hensel (60) ist Schriftstellerin und lehrt als Professorin an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Sie wurde in Karl-Marx-Stadt geboren, hat einen Sohn und ein Enkelkind. Zuletzt veröffentlichte sie im Luchterhand Verlag den Roman »Regenbeins Farben«, sowie den Gedichtband »Cinderella räumt auf«.
Bilder bedeuten alles im Anfang
Identität - dringend gesucht
Die Frage nach der Identität hat in den letzten Jahren zugenommen: Eigene Wurzeln werden gesucht und an vermeintlich sicheren Begriffen wie Heimat, Sprache, Werte, Glaube festgemacht. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln werden wir nach Identität(en) im Spannungsfeld zwischen enger Aus- und Eingrenzung sowie Globalisierung und Offenheit fragen und danach, unter welchen Einflüssen wir wann wohin tendieren.
Die Tagung ist Auftakt eines Werkstattprojektes, das die Ausstellung »Bild und Identität« der Staatlichen Schlösser, Burgen, Gärten gGmbH in der Albrechtsburg Meissen begleiten wird.
24. bis 26. September 2021
Klosterhof St. Afra Meißen
Team: Kerstin Hensel, Susanne Salzmann, Dr. Simona Schellenberger, Dr. Kerstin Schimmel, Prof’n Dr. Susanne Schötz, Dr. Alexandra Stanislaw-Kemenah
Kooperation: Gleichstellungsbeauftragte der Landeshauptstadt Dresden; Lehrstuhl Wirtschafts- und Sozialgeschichte der TU Dresden; Staatliche Schlösser, Burgen, Gärten Sachsen gGmbH; Albrechtsburg Meissen; Planungsgruppe »Freiheit 16«
Tagungsnummer: 21-307
Anmeldung unter www.ea-sachsen.de