»Tu deinen Mund auf
für die Stummen«

Hanka Kliese wuchs ohne Religion in der DDR, in Kroatien und Nordkorea auf – doch bei ihrem Engagement für Menschen mit Behinderungen entdeckte die stellvertretende SPD-Vorsitzende in Sachsen den Glauben an Gott. Er trägt sie selbst im Machtgetümmel der Politik. Auch wenn er es ihr nicht immer einfach macht.

Text: Andreas Roth // Fotos: Georg Ulrich Dostmann

 

Verschränkte Arme wären für das Foto gut. Politiker zeigen so gern Entschiedenheit, Biss, etwas Raumgreifendes. Hanka Kliese schaut auf der Straße vor  ihrem Ladenbüro nahe dem Chemnitzer Hauptbahnhof etwas unglücklich. »Das ist nicht so meine Haltung«, sagt  sie. Sie hält die Hände offen.  Das ist nicht immer eine komfortable Position in der  Politik. 

Gerade kommt Hanka Kliese (41), stellvertretende  Vorsitzende der sächsischen SPD und Landtagsabgeordnete, vom Landesparteitag zurück. Dort hat sich eine Mehrheit für die Abschaffung der Pflicht zur Beratung von Frauen vor einem Schwangerschaftsabbruch ausgesprochen. Hanka Kliese sieht das anders. Obwohl sie Feministin ist. Obwohl für sie das Selbstbestimmungsrecht der Frau ganz oben steht. Oder vielleicht gerade deswegen. Aber sie meißelt keine Kritik in Stein, sie erinnert nur nachdenklich an Frauen in Not, denen eine solche Beratung geholfen hat. 


»Wir haben zwei völlig gegensätzliche Trends in unserer Gesellschaft: Wir wollen Inklusion von Menschen mit Behinderungen – und gleichzeitig wollen wir schon vor der Geburt wissen, ob ein Kind behindert ist«, sagt Hanka Kliese. Dass Eltern bei der Prognose Trisomie 21 verzweifeln, 

hält sie für ein Armutszeugnis für eine hoch entwickelte Gesellschaft. Das menschliche Leben ist für Hanka Kliese etwas Großes, selbst wenn es so klein ist wie ein Gummibär im Bauch der Mutter– aber der Entscheidung einer Frau würde sie am Ende immer das letzte Wort geben. Es bleibt etwas Unaufgelöstes, etwas Schmerzendes. Und Hanka Kliese will es nicht übermalen. 

»Glaube und Feminismus übereinander zu bekommen«, sagt sie, »das ist manchmal wirklich eine Herausforderung«. Wobei sie Feministin schon war, als der Glaube ihr noch fern lag. Ziemlich fern. Ihre Eltern unterrichteten Deutsch an Hochschulen in Kroatien und Nordkorea und glaubten, so erzählt es die Tochter, ernsthaft und aufrichtig an das System der SED. Sie hatten nichts  gegen Religion, sie kam einfach nicht vor. 


Mit 17 fand Hanka Kliese zu den Jusos, mit 18 machte sie ein Freiwilliges Soziales Jahr in einem Chemnitzer Wohnheim für seelisch kranke und mehrfach behinderte Menschen, es sollte sie prägen. Sie studierte Politikwissenschaften, 2009 wurde sie für die SPD in den  Landtag gewählt. Für Menschen mit Behinderungen wollte sie sich auch dort einsetzen. Und machte dabei denkwürdige Entdeckungen. 


Vor einer Podiumsdiskussion in einem christlichen Körperbehindertenverein zum Beispiel wurde gebetet. Sie traf Sozialarbeiter, die unter widrigen DDR-Bedingungen Menschen mit Behinderungen und in Not geholfen hatten – und als die junge Politikerin nach den Quellen ihrer Kraft dafür fragte, antworteten sie: Es war ihr Glaube. Einer stieg auf sein Fahrrad, auf dem verkündete ein Aufkleber: »Jesus liebt dich«. Was für Hanka Kliese blieb: »Wie eindrucksvoll es ist, wenn jemand sein Menschenbild auch lebt.« 

Als ihre Tochter zur Welt kam, wollte sie ihr etwas mitgeben, was sie selbst nicht erhalten hatte. Einen Schlüssel zur Welt des Glaubens. Sie begann in der Bibel zu lesen. Die Fragen wurden eher mehr. Ratlos erkundigte sie sich nach einer Fraktionsklausur abends im Hotel bei ihrem Vorsitzenden Martin Dulig: Was ist eigentlich die Taufe? »Es ist wie Aufgenommen-Werden 

in eine zweite Familie«, antwortet er ihr. 

Den Gedanken fand sie schön. Einen Anker zu haben zum Festhalten. Sie konnte ihn gut gebrauchen. In dieser Zeit erkrankte sie an Multipler Sklerose. Am 2. Oktober 2016 ließ Hanka Kliese sich in der Chemnitzer St. Nikolai-Thomas-Gemeinde taufen. Auch ihre Eltern kamen. Ihren Taufspruch suchte sie sich selbst heraus aus dem biblischen Buch der Sprüche: »Tu deinen Mund auf für die Stummen, und für die Sache aller, die verlassen sind«.

Oft sind die unsichtbar. So wie die vielen Frauen, die mitten in Deutschland zur Prostitution gezwungen werden. Viele liberale Linke und Feministinnen halten Sexarbeit für ein normales Gewerbe, SPD und Grüne haben es vor 19 Jahren legalisiert. Hanka Kliese hat lange mit sich gerungen, hat Betroffenen zugehört und viel gelesen, gerade weil auch sie Feministin ist. »Am Ende bin ich zu dem Schluss gekommen, dass wir damit staatlich legitimieren, dass Frauen Gewalt angetan wird und die meisten Prostituierten nicht selbstbestimmt sind – das finde ich moralisch ganz verwerflich.« Sie plädiert für das Modell nordeuropäischer Staaten, die nicht die Prostituierten bestrafen – sondern die Käufer von Sexarbeit. In ihrer Partei steht man damit im Gegenwind.

Es gibt ein Gebet, das betet Hanka Kliese oft: »Lege die Hände auf meine Schulter und hilf mir, den Weg zu gehen, den du für mich vorgesehen hast.« Dass ihre Wege nicht von ihr allein gezeichnet sein sollten, das irritiert sie wirklich – aber sich sanft begleitet zu wissen, das gibt ihr Sicherheit. Auch da bleibt eine Spannung.

Eines der schönsten Worte des Glaubens heißt für Hanka Kliese »Gottvertrauen«, gerade in schwierigen Entscheidungen. Wenn, wie in diesen Monaten, die Gewichte der Macht in ihrer in schweren Fahrwassern manövrierenden Partei neu verteilt werden, dann will sie nicht mitten im Gewühl der Kämpfe stehen. Dann denkt sie an dieses Wort und an ihre siebenjährige Tochter. Es schenkt ihr Distanz.

Langmut hält Hanka Kliese für eine wichtige politische Tugend. »Da ist der Glaube sehr hilfreich.« Acht Jahre musste sie arbeiten, bis das sächsische Blindengeld erhöht wurde. Zehn Jahre, bis im Gefängnis auf dem Chemnitzer Kaßberg endlich eine Gedenkstätte an die Opfer in NS- und DDR-Zeit erinnern wird. An die weiße Wand ihres Chemnitzer Ladenbüros hat sie Verse der Dichterin Hilde Domin pinseln lassen: »nicht müde werden / sondern dem Wunder / leise wie einem Vogel / die Hand hinhalten«.

Die Sozialdemokratin hält ihre Taufkerze in den Händen. Sie zündet sie nicht an, sie bewahrt sie wie einen Schatz.