»Vielleicht wird alles gar nicht so lange dauern – aber auch das Gegenteil wollen wir ertragen«
Harald Wagner ist junger Vater, als er von der Stasi verhaftet wird – seine Frau Beate und er beginnen einen Briefwechsel über die Gefängnismauern hinweg über Liebe, Glaube und Widerstand.
Text: Andreas Roth // Foto: Steffen Giersch
Sie hatten die Briefe nie wieder angesehen. In einer Mappe waren sie verwahrt, 40 Jahre lang. Sie hatten nicht einmal gewusst, dass sie noch existierten.
8.8.1980: Mein lieber Harald, … Du solltest wissen, dass ich in Gedanken stets bei dir bin, dass ich stets zu dir halten werde, was auch kommen mag. … Ich bekomme viel Hilfe. Ich schaffe es, ich will es. Ich werde stark sein, obwohl du mir doch sehr fehlst.
Vier Tage zuvor Anfang August 1980 waren Harald und Beate Wagner früh um sechs durch ein Klopfen geweckt worden. Männer in Zivil des Ministeriums für Staatssicherheit hatten den Bauernhof von Harald Wagners Mutter im Altenburger Land umstellt. Sie durchsuchten das Haus nach aus dem Westen geschmuggelten Büchern und Aufsätzen des Dissidenten Rudolf Bahro.
Der damals 30-Jährige Wagner hatte tatsächlich bei der illegalen Einfuhr von hunderten Exemplaren tatkräftig geholfen. Der große bärtige Mann arbeitet damals als Sportlehrer an der Leipziger Universität und war als Zehnkämpfer in der DDR-Nationalmannschaft, seine Frau als Läuferin, sie hatte Ökonomie studiert – doch abends hören sie Frank Zappa und Miles Davis, lesen Adorno und Erich Fromm und diskutierten in oppositionellen Zirkeln.
Für das christliche Paar ist die Jesus-Bewegung eine Bewegung für Gerechtigkeit und Gleichheit aller Menschen vor Gott - da treffen sie sich mit dem Philosophen Bahro und anderen marxistischen wie christlichen Dissidenten. Im Haus von Wagners Mutter indes werden die Stasi-Männer nicht fündig. Verhaftet wird Harald Wagner trotzdem.
10.8.1980: Liebe Beate, heute, in meinem ersten Brief, kann ich Dir mitteilen, dass es mir, den Umständen entsprechend, gut geht. … Vielleicht wird alles gar nicht so lange dauern – aber auch das Gegenteil wollen wir ertragen. Besonders tiefe Traurigkeit weht mich an, sobald ich mir vorstelle, dass ich von Euch getrennt, die nächsten, wichtigen Entwicklungsetappen unserer Kinder nicht miterleben kann. …
In seiner Zelle in der Leipziger Untersuchungshaftanstalt malt Harald Wagner auf die Rückseite seiner Briefe Tiere für den dreijährigen Sohn und die anderthalbjährige Tochter. Auf der Vorderseite schreibt er seiner Frau. Eine DIN A4-Seite pro Woche war erlaubt, er nutzt sie aus bis zum Rand.
Seine Frau Beate tut es genauso. Sie wiegen jedes Wort. Um die Vorwürfe der Vernehmer darf es nicht gehen, um die Umstände der Haft auch nicht. Und zu tiefe Einblicke in ihre Seelen sollten die Briefe auch nicht geben, um den psychologisch geschulten Verhörexperten keine Munition zu schenken. Es gelingt ihnen nicht immer.
29.9.1980: Lieber Harald, sehr groß war meine Freude, dich wiedersehen zu dürfen. … Ich glaube, dass ich jetzt bewusster lebe. … Für Dinge und Menschen, die mich umgeben, und die ich als »ganz natürlich« und auch teilweise als Last angesehen habe, empfinde ich tiefe Liebe und Verbundenheit. Unsere Kinder, die mir eine große Stütze sind und viel Freude bereiten, Menschen, die zu mir stehen, die Natur, der Herbst und vieles andere mehr erlebe ich bewusster. Bedurfte es erst dieser Sache, um das erkennen zu müssen!!
Beate Wagner hatte kurz zuvor ihren Mann in der Untersuchungshaft besuchen dürfen. Sehr blass sah er aus. Tageslicht bekommt er nie zu sehen. In dem überdachten Betonviereck für den Ausgang rennt der Sportler in engen Achter-Schleifen. Danach wieder Tag und Nacht Verhöre hinter dick gepolsterten Türen.
20.12.1980: Geliebte Beate, … Ihr werdet jetzt die Weihnachtstage schon voll genossen haben und vielleicht war ich in euren weihnachtlichen Träumen auch zu Gast. – Hier selbst verspüre ich eigentlich überhaupt nichts davon (von Weihnachten!), denn mein Weihnachtsliedersingen allein bringt noch keine Weihnachtsstimmung herbei – aber am Heiligabend wird das sicher etwas anders werden. Ich habe mir fest vorgenommen, mich fest auf den Aspekt der Hoffnung (durch Christi Geburt) zu konzentrieren, was mir um so leichter fallen dürfte, da ich euch gut »versorgt« und euch alle an meiner Seite weiß. …
Harald Wagner meditiert und macht Yoga in seiner Zelle. Im Stehen, sitzend auf dem harten Boden, auf seiner Pritsche. Und er entdeckt, obwohl getauft und konfirmiert, erst hier richtig die Bibel. Wo ist Gott im Gefängnis?
Beate und Harald Wagner staunen, wenn sie heute ihre Briefe lesen, über die Spuren ihres Glaubens in ihnen. Hoffnung und Gottvertrauen hätten ihn auch in der dunkelsten Gefängnisstunde nie verlassen, sagt Harald Wagner. Seiner Frau fallen auf die Frage nach einer anderen Beziehung zu Gott ihre Freunde ein, die sie getröstet und getragen haben. Das Gefühl, aufgehoben zu sein, trotz allem.
25.1.1981: Liebe Beate, … So jetzt will ich Dir noch etwas über Logik schreiben. Aus der Technik (Elektronik-Kybernetik) erfuhr die binäre Logik (als in der Philosophie allein anerkannte Methode) eine notwendige Erweiterung. Ging man bisher davon aus, dass eine Aussage entweder wahr oder falsch sein konnte, erkannte man jetzt aber, dass es technisch möglich bzw. notwendig war, Zwischengrößen einzuführen. Und dies kann im philosophischen Bereich bedeuten, dass notwendigerweise die Konklusionen nicht mehr nur »wahr« oder »falsch« sein müssen. …
Die letzten Tage seiner Untersuchungshaft in Leipzig sitzt Harald Wagner mit einem Physiker in einer Zelle. Mit ihm öffnen sich für ihn neue philosophische Horizonte. So wie mit Schelling, Kant, Hegel und Bloch, deren Bücher Beate Wagner ihrem Mann ins Gefängnis bringt.
Er liest sie von vorn bis hinten wie die Bibel. Sie helfen ihm gegen das Gefühl verlorener Lebenszeit. Und geben seinem Leben eine neue Richtung. Er lehnt das Angebot ab, in den Westen abgeschoben zu werden. Er will in der DDR bleiben, selbst in Haft. Und danach Theologie studieren.
12.3.1981: Geliebter Harald, … Als ich las, dass du in Brandenburg bist, wurde mir ganz schlecht. Dich so weit weg zu wissen, bedrückt mich doch sehr. Am Anfang hatte ich das Gefühl, dass man durch dein Wegbringen mir etwas weggenommen hat, für lange Zeit unerreichbar. Aber nachdem ich in Ruhe darüber nachgedacht habe, bin ich etwas vernünftiger geworden bzw. kann die Situation objektiver sehen. … Ich bin zuversichtlich, denn wir haben das Schlimmste, die Ungewissheit, überstanden.
Am 13. Februar 1981 war Harald Wagner wegen »Beihilfe zum Verbrechen der staatsfeindlichen Hetze« zu einem Jahr Haft verurteilt worden. Mit 14 anderen Männern ist er in der Justizvollzugsanstalt Brandenburg in einer Zelle eingesperrt. Die Luft zwischen ihnen ist eng und aufgeladen. Auch dort macht Harald Wagner Yoga. Am Anfang lachen die Männer, am Ende machen sie mit. Am 27. Mai 1981 wird er vorzeitig entlassen.
Was folgt, sind Berufsverbot, Monate der Arbeit als Heizer, das Theologiestudium am kirchlichen Seminar in Leipzig, Jahre als Pfarrer und nach 1993 als Professor für Soziologie an der Evangelischen Hochschule Dresden. Aber auch die Erfahrung, nicht wie viele andere zerbrochen zu sein am Unrecht der SED-Diktatur. Nicht verbittert zu werden.
Wenn Harald Wagner mit seiner Frau heute durch die Gefängnistrakte der Stasi geht, ist vieles wieder da. Die gepolsterten Türen der Vernehmerzimmer, der Gang zum Verhör, niemals durfte ein Häftling dabei einen anderen Häftling erkennen. Das Zellenalphabet an der Wand: einmal Klopfen für A, zwei Mal Klopfen für B. Ist es schwer, das wiederzusehen, was in ihren lange vergessenen Briefen verschlossen lag?
Harald Wagner legt die Hand um seine Frau. So ist es leichter, sich zu erinnern.