Keine Gewissheit,
aber Hoffnung
Der sächsische Minister Sebastian Gemkow ringt mit sich um Antworten: Ob es um Abschiebungen geht oder den Suizid eines Islamisten im Gefängnis – Politik ist oft ein komplexes Abwägen. Und kann weh tun. Doch Heraushalten aus der Verantwortung ist für den Christdemokraten keine Option. Das hat auch mit seinem Urgroßonkel zu tun.
Text: Andreas Roth / Foto: Martin Förster
Manchmal kann der Glaube einen Politiker in Schwierigkeiten bringen. Auch einen gläubigen
Politiker. So geschah es am 10. Oktober 2016, als ein Mann namens Dschaber al-Bakr in das Leipziger Gefängnis eingeliefert wurde. Nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden stand er kurz davor, einen Terroranschlag zu verüben. Der Islamist begründete das mit seinem Glauben an Gott. Zwei Tage später wurde er erhängt in seiner Zelle gefunden. Damit begannen die Probleme für Sebastian Gemkow.
Der damals 38-jährige sächsische Justizminister – hoch, schmal, Vollbart, noch nicht einmal zwei Jahre im Amt – stand plötzlich im Feuer: Die Mitarbeiter seiner Justiz hätten versagt, bei einem potentiellen Selbstmordattentäter hätte man mit Suizid rechnen müssen, der Minister solle zurücktreten. Gemkow übernahm die politische Verantwortung, aber zurück trat er nicht. Der Minister, der vielen Beobachtern der Landespolitik als nachdenklich und leise in einem oft lauten Betrieb aufgefallen war, wurde noch nachdenklicher.
»Die Justizmitarbeiter damals hatten den Eindruck, dass kein Suizid-Risiko besteht – wenn wir diesen Menschen dann 24 Stunden überwacht und immer wieder das Licht angemacht hätten, hätte man sich zu recht dem Vorwurf der Folter ausgesetzt.« Das Dilemma beschäftigt ihn bis
heute, er setzte teure Reformen um, die Suizide in sächsischen Gefängnissen verhindern sollen. Das Leben, davon ist Sebastian Gemkow überzeugt, ist von Gott geschenkt. Bloß dass das Leben gar nicht so selten arg kompliziert eingerichtet ist. Und in einer komplexen Welt nicht immer
offen zutage liegt, was gut ist und was schlecht.
Als sächsischer Wissenschaftsminister und CDU-Landtagsabgeordneter hat Sebastian Gemkow selten mit Gewissensfragen zu tun. Um so mehr aber mit komplexen Lösungen für komplexe Probleme.
Den Kompass in diesem unübersichtlichen Gelände hat er in seiner Kindheit gefunden. In einer konservativen evangelischen Leipziger Familie. »Bei uns wurden die Grundsätze der Nächstenliebe weitergegeben, der Bewahrung der Schöpfung – und jeden anderen Menschen, gleich wo er herkommt und welcher politischen Meinung er ist, als gleichwertig anzusehen«, erinnert sich Sebastian Gemkow.
Der Vater Hans-Eberhard Gemkow war in der CDU schon in Zeiten der DDR, der Sohn bei den Jungen Pionieren. Heute sehe er klarer, was für ein Drahtseilakt das in der Diktatur gewesen sei, sagt Sebastian Gemkow. »Aber unsere Familienüberzeugung war, als Christ in der Gesellschaft mitzugestalten – und sich nicht zurückzuziehen in eigene Räume.«
Der Revolutionsherbst 1989 mit den Friedensgebeten in seiner Heimatkirche im Leipziger Stadtteil Anger-Crottendorf prägte den damals Elfjährigen und er wirkt bis heute in ihm nach. Er begleitete seinen Vater auf den Montagsdemonstrationen. Als seine Deutschlehrerin die Revolutionäre als Steinewerfer und Gewalttäter beschimpfte, musste er widersprechen. Seinen früh verstorbenen Vater spülte die Revolution in die Politik als Leipziger Beigeordneter für Recht, Ordnung und Sicherheit. Als in Rostock 1992 der rassistische Mob tobte, warb er vor aggressiven Bürgern im Umfeld eines Leipziger Asylbewerberheims für Frieden.
Das alles hat auch mit Sebastian Gemkows Urgroßonkel zu tun. General Hans Oster, einer der Köpfe des militärischen Widerstands gegen Hitler, der noch kurz vor Kriegsende dafür hingerichtet wurde. Ein Dresdner Pfarrerssohn, ein Christ. Einer, der viele Leben retten wollte und dafür mit anderen Verschwörern den Tod des Tyrannen plante. »Das war sehr präsent in unserer Familie«, sagt Sebastian Gemkow. »Ob ich selbst diesen Mut und diese Glaubensstärke aufbringen würde? Wahrscheinlich nicht. Aber er ist für mich ein wichtiger Maßstab.« Gerade dann, wenn die Politik vor Fragen steht, die wehtun. Und es kein absolutes Richtig und Falsch gibt, sondern beides ineinander verknotet ist.
In diesen Sommertagen ist es die Migrationspolitik in Gestalt von zwei nachts abgeschobenen georgischen Familien, die Sachsen bewegt. Die einen, weil sie das Leid gerade der Kinder mitfühlen. Die anderen, weil sie finden, dass der deutsche Staat das Asylrecht viel öfter konsequent durchsetzen sollte. »Das erweicht einem schon das Herz«, sagt Sebastian Gemkow, selbst Vater von vier Kindern. Er ringt im Gespräch lange um Formulierungen, die der ganzen
Größe des Problems gerecht werden. Er sagt: »Es ist schlimm, dass diese Konflikte auf den Rücken
der Kinder ausgetragen werden.« Denn er sieht da in der Tat einen Konflikt, er geht auch durch ihn selbst: Hier das Leid einzelner Menschen – dort die Regeln des Rechtsstaats, die ein Zusammenleben erst ermöglichen und durchgesetzt werden müssten. Auch wenn es schmerzt.
»Nächstenliebe bedeutet auch, dass eine Gesellschaft sich auf Normen verständigt, an die jeder am Ende auch gebunden ist«, sagt der Jurist Gemkow. Im August entschied das Sächsische Oberverwaltungsgericht, dass eine Abschiebung rechtswidrig war.
Eines aber ärgert Gemkow. Dass es hierzulande trotz sechs Jahren hitziger Debatte um Migration noch immer kein funktionierendes Einwanderungsrecht gibt für Menschen, die hier arbeiten wollen und gebraucht werden. »Das ist der Vorwurf, den ich der Politik mache – und da schließe ich mich mit ein.« Mit der eigenen Fehlbarkeit rechnen, auch das ist für Menschen wie ihn eine Glaubensfrage.
Der Tod des Dschaber al-Bakr hat Sebastian Gemkow bis heute offene Fragen hinterlassen. »Warum tut das jemand aus einer religiösen Motivation heraus?« Auch der Minister
glaubt, dass nach dem Sterben noch etwas kommt – aber ganz anders als der Islamist. »Ich will nicht von Gewissheit reden, aber von Hoffnung, dass es nach dem Tod nicht zu Ende ist. Wie auch immer dieser Zustand dann sein wird.«
Diese Hoffnung gibt ihm Halt. Und Trost. Und einen Abstand zu den Aufgeregtheiten des politischen Betriebs. »Dass wir hier nur auf Zeit sind, dass es ein Kommen und Gehen ist – vor uns und nach uns. Und dass wir diese Zeit nutzen müssen, um etwas hoffentlich Gutes zu hinterlassen« – dieser Gedanke, sagt der Minister, sei für ihn immer gegenwärtig. Je älter er wird, desto mehr.