»Utopien sind eine Sehnsucht: Es muss doch auch anders gehen«
Klimakrise, globale Ungerechtigkeit, die Ausbeutung der Schöpfung – immer mehr Menschen suchen nach Auswegen in Utopien. Nur Träumerei? Es ist die einzig realistische Chance, meint die Theologin Juliane Assmann von der Initiative »anders wachsen« – stimmt, aber manche Utopien werden in der Praxis nicht leicht umzusetzen sein, erwidert der Unternehmer Sebastian Meyer-Stork.
Text: Andreas Roth // Fotos: Steffen Giersch
Wir sitzen hier in einem Garten voller Gemüse und Blumen in der Dresdner Johannstadt, den die Initiative »anders wachsen« neben einem Kirchgemeindehaus angelegt hat – wächst hier auch eine Utopie?
Juliane Assmann: Wir möchten als Initiative »anders wachsen« in Dresdner Kirchgemeinden Orte ganz praktisch real werden lassen, die wir uns bisher gar nicht vorgestellt haben, weil wir unter der Illusion leben, es ginge eigentlich gar nicht anders. Wir teilen und tauschen Lebensmittel – ohne dass man dafür bezahlen muss oder eine Bedürftigkeit geprüft wird. Oder wir verlosen ein Bedingungsloses Grundeinkommen. Oder wir nehmen diesen Wäscheplatz hier und bauen darauf Essen an, um zu zeigen: Wir können den Raum selbst in der Enge der Stadt anders nutzen.
Sebastian Meyer-Stork: Mir fällt da sofort der Garten Eden ein – das ist ein Ort der Utopie. Ein Idealzustand. Aber meinen Glauben würde ich nicht als Utopie bezeichnen, denn das ewige Leben oder die Auferstehung der Toten haben keine Berührungspunkte zu dieser Welt. Trotzdem haben wir die Aufgabe, auch hier und jetzt schon etwas zu tun, damit das Reich Gottes beginnen kann.
Assmann: Ganz viel, was als »utopisch« verschrien ist, steht doch schon als sehr konkrete Anweisung in der Bibel: Die Umverteilung von angehäuftem Reichtum in Jubeljahren, oder dass wir der Erde, den Tieren, der Schöpfung und uns selbst regelmäßig Pausen – Sabbat genannt – gönnen sollen. Das ist sehr viel weniger utopisch als das, was wir gerade machen: Alle Ressourcen der Erde mit den schlimmsten Methoden verbrauchen und zu erwarten, dass das in 50 Jahren auch noch so geht.
Aber hat uns nicht erst jüngst die Entwicklung des Corona-Impfstoffs gezeigt, dass wirtschaftliches Wachstum auch viel Gutes tun kann? Auch der Sozialstaat braucht die Steuermilliarden blühender Firmen. Sind Utopien für Sie als Unternehmer weltfremd, Herr Meyer-Stork?
Meyer-Stork: Auch wenn Sie unternehmerisch tätig werden wollen, brauchen Sie am Anfang eine Utopie. Sie müssen sich nämlich ein Produkt oder eine Dienstleistung ausdenken, die es so bisher nicht gibt. Ein Unternehmer ohne Utopien hat den Beruf verfehlt.
Assmann: Aber so entstehen auch viele Produkte, die Menschen eigentlich nicht brauchen. Herr Meyer-Stork, darf ich Sie mal was fragen? Sie sagen, Sie sind ein christlicher Unternehmer – wie wirkt sich das aus? Achten Sie schon jetzt auf die Menschenrechte und die Umwelt in Ihrer gesamten Lieferkette?
Meyer-Stork: Diese Aspekte stehen nicht am Anfang. Mir geht es zunächst vor allem um das innerbetriebliche Miteinander. Da versuche ich, Vorbild zu sein. Darauf lässt sich Weiteres aufbauen.
Die Tech-Giganten wie Facebook verkaufen auch eine Utopie: die der freien Kommunikation. Ihr Glaubensbekenntnis ist, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Meyer-Stork: Das sehe ich ganz kritisch, weil dieses Ziel mit Allmachtsfantasien einhergeht. Überspitzt ist es der Anspruch, Gott gleich zu sein.
Assmann: Und so frei ist die Kommunikation in den Netzwerken dieser Konzerne nicht. Alles, was man da nicht mit Geld bezahlt, zahlt man mit seinen Daten.
Ist das nicht auch das Schicksal vieler gesellschaftlicher Utopien, die hehre Ansprüche hatten und am Ende das Gegenteil bewirkten? Das 20. Jahrhundert ist da voller Beispiele, die DDR ist nur eines davon.
Assmann: Das passiert, wenn eine Utopie als das einzig Wahre gefasst wird. Deshalb bin ich sehr vorsichtig damit, etwas als »die« Lösung zu formulieren. Eine Utopie darf nicht ins Autoritäre oder Totalitäre abrutschen.
Meyer-Stork: Für mich sind Utopien trotzdem etwas Positives. Im Grunde sind sie doch eine unglaubliche Motivation. Wenn wir immer nur vor uns hin arbeiten würden ohne eine langfristige Idee, wüsste ich persönlich nicht, wie ich damit klarkommen könnte würde.
Assmann: Dass es gerade eine Renaissance des utopischen Denkens gibt, ist auch eine Antwort auf das, was wir seit Jahren erleben: Unser Lebensstandard im globalen Norden verbessert sich auf Kosten vieler Menschen, die in Armut leben und vor Dürren und Überschwemmungen als Folgen der Klimaerhitzung fliehen müssen. Utopien sind eine Sehnsucht: Es muss doch auch anders gehen.
Haben Sie als Unternehmer auch so eine Utopie, Herr Meyer-Stork?
Meyer-Stork: Ich frage mich in den letzten Jahren zunehmend: Wie viel braucht der Mensch? Ist es wirklich so, dass ich umso glücklicher werde, je mehr ich habe? Auch als Naturwissenschaftler weiß ich, dass jedes Wachstumsmodell auf dem begrenzten Raum der Erde zu Lasten Dritter geht – und seien es die natürlich Ressourcen. Aber wie man aus dieser Nummer herauskommt, dafür habe ich kein Patentrezept. Ist das utopisch?
Die Geschichte hat gezeigt, dass Gesellschaften, deren Wohlstand schrumpft, schnell instabil werden – würde die Utopie eines Abschieds vom Wachstum unsere Demokratie in Europa zerlegen?
Meyer-Stork: Die Gefahr gibt es. Wir haben das zum Beispiel gesehen bei der Diskussion um die Aufnahme von Migranten. Die schon erwähnte Frage, was der Mensch braucht, erfordert einen gesellschaftlichen Grundkonsens.
Assmann: Mit Zwang wird eine Begrenzung nicht funktionieren. Aber wie wäre es damit, Werbeflächen massiv einzuschränken, um nicht mehr so viele Kaufanreize zu geben? Man kann das Konsumverhalten auch medial und kulturell in eine andere Richtung lenken: dass es befreiend sein kann, weniger zu haben.
Meyer-Stork: Aber dafür müsste eine politische Partei Mehrheiten gewinnen – und die kann ich nicht erkennen.
Lässt sich denn ein Unternehmen erfolgreich am Leben halten, wenn man nicht wachsen will?
Meyer-Stork: Nach meiner Wahrnehmung gibt es bislang kein Unternehmen, dem das dauerhaft gelungen ist.
Assmann: Es gibt aber positive Beispiele von kleinen und mittelständischen Firmen, die nur bis zu einer bestimmten Größe wachsen, kürzere Arbeitszeiten haben und als Kollektive ohne Hierarchien zwischen Vorgesetzten und Angestellten funktionieren.
Meyer-Stork: Da muss ich mal dazwischengehen. Ein Unternehmen muss Kunden gegenüber treu sein und kann sie nicht im Regen stehen lassen, weil die Kapazität ausgelastet ist. Dann verliert es die Kunden. Und bei kollektiven Arbeitsmodellen fällt mir die Abkürzung T. E. A. M. ein: toll, ein Anderer machts. Meine Erfahrung aus 30 Jahren Leitung ist: Viele Arbeitnehmer wollen ihren Job gut machen, aber sie wollen nicht oder nur begrenzt Führungsverantwortung übernehmen. Und das ist auch okay.
Zeigt dieses Beispiel, dass Utopie und echtes Leben oft zwei Paar Schuhe sind?
Assmann: Natürlich gibt es da oft eine Bruchstelle. Ob Gerechtigkeit, Frieden oder das Reich Gottes, von dem Jesus in der Bibel spricht: Wir können es schlecht positiv beschreiben – aber wir merken, wenn etwas nicht stimmt oder fehlt. Und wir arbeiten deshalb daran, dass es besser wird. Es ist ein Weg, kein Ziel.
Meyer-Stork: Es ist unsere Aufgabe hier und jetzt, friedlich miteinander umzugehen, auf unsere Nächsten zu achten und uns um die Schwachen in unserer Gesellschaft zu kümmern. Dann entsteht schon ein bisschen von dem Reich Gottes, das wir nur als Ahnung haben.
Assmann: Gerade das ist doch sehr viel realistischer als die Utopie des Kapitalismus: Du musst dich nur gut genug anstrengen, dann kannst du alles schaffen. Das ist eine Lüge. Da finde ich den christlichen Glauben sehr viel realistischer, weil er mit unserer Verletzlichkeit rechnet. Wir haben Zeiten, in denen wir nicht leistungsfähig sein können. Und unser Lebensinhalt als Menschen ist mehr als Arbeit. Da finde ich das Reich Gottes gerade nicht utopisch – sondern sehr, sehr realistisch.
Zur Person:
Ludwig Sebastian Meyer-Stork (59) stammt aus Bielefeld und ist seit über 30 Jahren leitend in Industrie und Wirtschaft tätig. Der promovierter Chemiker lebt seit 2009 mit seiner Familie im Landkreis Meißen. Nach beruflichen Stationen in Dresden und Chemnitz befindet er sich derzeit in einer Neuorientierung. Der engagierte Christ ist u. a. Vorsitzender des Kuratoriums der Evangelischen Akademie Sachsen und wirkt in den Aufsichtsgremien der Diakonischen Werke in Dresden und Meißen mit.
Juliane Assmann (29) ist Theologin und seit 2019 Referentin der Initiative »anders wachsen«. Sie stammt aus Berlin und hat vorher in Menschenrechts- und Friedensorganisationen mitgearbeitet. Die 2011 in Sachsen gegründete christliche Initiative »anders wachsen« sucht nach Alternativen zu einer auf Wirtschaftswachstum aufgebauten Lebensweise und will sie in Dresdner Kirchgemeinden praktisch erproben.