Erste Hilfe für die Seele

Nach einer schweren Depression gründete Brigitte Mothes eine Selbsthilfegruppe.
Inzwischen sind es fünf. Dutzenden Betroffenen von psychischen Erkrankungen
hat sie damit schon aus der Einsamkeit und der Tabuzone Depression herausgeholfen.


Text: Iris Milde // Fotos: Steffen Giersch

Brigitte Mothes hat sich in die größte Krise ihres Lebens hineingearbeitet. Tagsüber ging sie ihrer Tätigkeit als Chefsekretärin nach. Am Feierabend büffelte sie für die Abendschule. Sie war übermüdet, unkonzentriert, konnte den Anforderungen immer weniger genügen. Als sie statt der ersehnten Festanstellung die Kündigung erhielt, fiel sie in ein tiefes Loch: »Mein Leben schien vorbei«, sagt die 60-Jährige. Sogar an Suizid habe sie gedacht. Der Notarzt lieferte sie in die Klinik ein. Das war 2012. »Bis 2016 habe ich herumgewurstelt mit der Erkrankung, bis ich wenigstens ein Stück weit auf den Beinen war«, erzählt sie. »Mein Therapeut hat mich nach und nach aufgepäppelt.«
Brigitte Mothes hatte Glück. Sie fand gleich im Anschluss an ihren Klinikaufenthalt einen Psychiater. Viele Betroffene müssten lange auf einen Termin bei einem Facharzt warten, sagt sie. »Wir haben mal im
Umkreis von 50 Kilometern um Auerbach alle Psychiatrien und Psychiater angerufen und nach einem Termin gefragt für jemanden, der aus der Klinik entlassen wird.« Die erschütternde Bilanz: Von 35 kontaktierten
Ärzten haben 33 abgelehnt, neue Patienten aufzunehmen. Zwei Ärzte konnten in einem halben Jahr einen Termin anbieten. »Es ist sehr schlimm, wenn ich als Betroffener so lange warten muss, bevor ich ein
Termin beim Therapeuten bekomme«, weiß Brigitte Mothes. Denn bei schweren Depressionen gilt: Ein Gespräch kann Leben retten.
 

»Es ist sehr schlimm, wenn ich als Betroffener so lange warten muss, bevor ich ein
Termin beim Therapeuten bekomme."

Brigitte Mothes


10 300 Menschen haben sich 2023 in Deutschland das Leben genommen. Das sind über 200 Personen pro Woche. »Wir wissen, dass die Zeit nach der Entlassung aus der psychiatrischen Klinik eine Hochrisikozeit ist«, sagt Ute Lewitzka. Die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie hat die erste Professur für Suizidologie und Suizidprävention in Deutschland inne. »In diesem Zeitraum sollte eine engmaschige professionelle Begleitung stattfinden.« Doch die wenigen Medizinstudenten, die sich für die Richtung Psychiatrie entscheiden, zieht es nicht unbedingt in den ländlichen Raum, etwa nach Auerbach im Vogtland.

Am Montag ist Kreativtag. Ob Serviettentechnik, Seidenmalerei oder Modellieren mit Gießmasse.

Selbstgebasteltes, wie diesen Kerzenständer aus Gießmasse, wollen die Vereinsmitglieder auf dem Auerbacher Familientag verkaufen. Sie wollen sich mit ihrer Krankheit nicht verstecken.

Beim Basteln tauschen sich die
Frauen aus, hören einander zu und bestärken sich gegenseitig. 


Dort hat Brigitte Mothes seit 2016 ein Rettungsnetz für Betroffene von psychischen Erkrankungen, wie Depressionen, Angststörungen, Borderline oder Schizophrenie, gespannt. Alles begann damit, dass
sie ihrem Therapeuten klagte, dass es in Auerbach keine Selbsthilfegruppe gäbe, wo sie sich mit anderen Betroffenen austauschen könnte. »Da hat er gesagt: Dann müssen Sie eben selbst eine gründen«, erzählt
Brigitte Mothes. Im September 2016 traf sich die sechsköpfige Selbsthilfegruppe Aktiv gegen Depression zum ersten Mal. »Wir wollten in der Gruppe die Krankheit nicht zerreden«, erklärt Brigitte Mothes, »denn es wird nicht besser, je mehr man darüber spricht. Wir wollten stattdessen aktiv sein.« Seitdem gehen die Gruppenmitglieder gemeinsam wandern, bowlen, ins Kino, spielen Gesellschaftsspiele oder basteln. Die Gruppe wuchs schnell. »Manchmal habe ich den Eindruck, dass nicht nur depressive Menschen hierherkommen, sondern auch Menschen, die einfach einsam sind. Hier finden sie soziale Kontakte«, stellt Mothes fest.
Inzwischen gibt es in Auerbach drei Selbsthilfegruppen: zwei für Erwachsene und eine für Jugendliche. Im Herbst 2024 haben sie ihre neuen Räume im Alten Amtsgericht am Altmarkt in Auerbach bezogen. Ein Aufsteller vor dem grüngestrichenen spätklassizistischen Bau informiert über das Angebot im »Aktivtreff«: Gesprächsrunden, kreatives Gestalten, Kochen & Backen, Dartturniere, Spielenachmittage, Filmabende
und vieles mehr. »Wer kommen möchte, kann hier fast jeden Tag etwas finden«, freut sich die Gründerin.
Viele der Frauen und wenigen Männer schauen täglich vorbei. Ob zum Plaudertreff, zum Brunch, zum Spielenachmittag oder – wie an diesem Montag Ende April – zum Kreativtag.

»Für mich ist die Gruppe wie eine Familie.«

Petra Schmidt


Am Tisch sitzen vier Frauen mittleren Alters. Vor ihnen aus weißer Gießmasse gegossene Kerzenständer und Schalen. »Für mich ist die Gruppe wie eine Familie«, sagt Petra Schmidt. »Die beste Medizin«, stimmt Ina Ungethüm zu. »Wir brauchen uns bloß anzugucken und sehen sofort, wenn es dem anderen nicht gutgeht. So wie letzten Freitag. Da brauchten die anderen nur einen Satz zu sagen, da habe ich schon angefangen zu weinen.« Die Frauen nicken zustimmend. Im Aktivtreff kennen alle diese Tage, an denen der Antrieb fehlt, wenn einen die tiefe Traurigkeit überkommt oder Panik erfasst. »Familie und Freunde können das oft nicht verstehen. Da heißt es dann: Reiß dich zusammen oder sei nicht so faul! Hier verstehen das alle. Man muss sich nicht erklären«, sagt Brigitte Mothes und setzt sich zu den anderen an den Tisch. Sie nimmt einen Kerzenständer in Form einer Mondsichel und schleift den Fuß der Figur mit Sandpapier. Im Mai möchte der Verein auf dem verkaufen. Um die Gruppenkassen aufzubessern, aber auch um sichtbar zu sein. Denn es geht auch darum, die Krankheit aus der Tabuzone zu holen. Die Scham abzulegen, sich nicht zu verstecken. »Wenn einer von der Gruppe hingeht, trauen sich die meisten anderen auch«, so Mothes.

Auf der Couch im Nebenraum können persönliche Gespräche unter vier Augen geführt werden. Manchmal kommt die Gruppe auf ein Thema, das ein Mitglied besonders berührt. 

Zusätzlich zu den Selbsthilfe-gruppen gibt es jeden Tag wechselnde Angebote im Aktivtreff. Manche kommen seit Jahren, einige täglich. So sind
enge Freundschaften entstanden.

Aus einer Selbsthilfegruppe sind fünf geworden. Drei in Auerbach und zwei in Plauen. Darunter ist auch ein Gesprächstreff für junge Menschen.

Sie ist ein Mensch, der vorangeht. Beim Thema Depression laufen bei Brigitte Mothes im Vogtland die Fäden zusammen. Sie hält Infoabende und Vorträge und sie hat es geschafft, das Bündnis gegen Depression im Vogtlandkreis, ein Zusammenschluss von Hilfseinrichtungen, wiederzubeleben und steht ihm als Sprecherin vor. In dieser Funktion organisiert sie Workshops an Schulen, während derer Schülerinnen und Schüler geschult werden, wie sie Depressionen bei Mitschülern erkennen und richtig darauf reagieren können. »Das wird von den Schulen sehr gut angenommen, aber die Mittel, die wir haben, sind ein Tropfen auf den heißen Stein. Und jetzt kam von den Lehrern: Wir sind ja auch nicht geschult. Wir müssen also auch etwas für die Lehrer anbieten.« Lücken im Hilfesystem – das kann Brigitte Mothes nicht ertragen. Längst glühen die
Telefondrähte, um eine Vortragsveranstaltung für Lehrer zu organisieren.
Es klingelt an der Tür. Brigitte Mothes führt eine junge Frau in den Raum: »Frau Schubert wurde von der Klinik geschickt, um sich das hier mal anzuschauen.« Antje Schubert hat dunkle Augenringe. Man sieht ihr an, dass sie einen Leidensweg hinter sich hat. Zwanzig Jahre lebe sie schon mit Depressionen, erzählt sie. »Ich wollte es geheim halten und die Pobacken zusammenkneifen, aber im Oktober ging es rapide bergab. Da hatte ich keine Chance mehr.« Sie kam in die Klinik, besucht nun die ambulante Tagesklinik. »Jetzt habe ich überlegt, was ich danach machen kann. Weil ich Angst habe, in die gleichen negativen Gedanken zurückzufallen. Deshalb bin ich hier.«
Der Aktivtreff und die Selbsthilfegruppen geben Betroffenen von Depression das, was sie unbedingt brauchen: Struktur, soziale Kontakte, Ablenkung. Aber sie können keinen Arzt und keinen Therapeuten ersetzen. »In manchen Gruppen weiß die Hälfte der Teilnehmer nicht einmal, wo sie ihre Medikamente herbekommen.« Der Ärztemangel treibt Brigitte Mothes um. »Viele kommen tatsächlich her, um die Zeit zu überbrücken, bis sie Therapeuten haben.« Manchmal kann sie in dringenden Fällen einen Arzttermin vermitteln, dank des Kontaktnetzwerks, das sie sich über die Jahre aufgebaut hat. Mit der Zeit habe sie ein Gefühl dafür bekommen, wenn jemand sofort Hilfe braucht. 

»Zu Hause bin ich alleine und fresse alles in mich rein. Hier kann ich mich mit jemandem unterhalten. Das tut unheimlich gut.« 

Katrin Elsner


Brigitte Mothes öffnet die Tür zum Nebenraum. Dort steht ein großes Ecksofa. Auf dem grauen Bezug liegt ein mit Farbklecksen bedrucktes Kissen mit dem Spruch: »Leben ist das mit der Freude und den Farben.« Manchmal komme in der Gruppe ein Thema zur Sprache, das ein Mitglied besonders berührt. »Dann setze ich mich mit demjenigen aufs Sofa, um das unter vier Augen zu besprechen. Hier soll es ja jedem gut gehen.«
Brigitte Mothes weiß auch, wie wichtig es für Betroffene von psychischen Erkrankungen ist, eine Aufgabe zu haben, gebraucht zu werden. Ob Selbsthilfegruppe, Angehörigentreff oder Dartturnier – jedes Angebot
wird inzwischen von einem Gruppenmitglied geleitet. Sindy Mothes organisiert Kopfsache, den Gesprächstreff für junge Menschen von 14 bis 25 Jahren, der dienstags in den Räumen des Aktivtreffs stattfindet. Denn auch für Jugendliche gäbe es in Auerbach sonst keine Möglichkeit, sich in einem geschützten Rahmen mit anderen Betroffenen auszutauschen, so Sindy Mothes, die nicht mit Brigitte Mothes verwandt ist. »Vorhin hat mich wieder eine Mutti angerufen und gefragt, ob ihre 14-jährige Tochter zu uns kommen kann.« Am Anfang jedes Treffens erzählen die Jugendlichen, wie es ihnen geht, danach wird gemeinsam gekocht, ein Tischspiel oder Darts gespielt. »Oft bin ich erstaunt, wie die – auch wenn sie etwa
eine Sozialphobie haben – hier aus sich rausgehen. Am liebsten würden sie sich den ganzen Nachmittag nur unterhalten.«

Brigitte Mothes und Ute Lewitzka im März
auf dem SachsenSofa in Arnsdorf zum Thema
Suizidprävention.
Foto: Johannes Ben Kockert

Besonders stolz ist Brigitte Mothes auf die
Preise, die sie im vergangenen Jahr erhalten
hat. Die Auszeichnungen geben ihr Rückenwind
in der täglichen Arbeit.

Zuletzt hat Brigitte Mothes auch in Plauen zwei Selbsthilfegruppen aufgebaut und geleitet. »Ich bin wegen meiner eigenen Depression berentet, aber meine ehrenamtlichen Aufgaben füllen meinen Tag«, schmunzelt sie. Für ihr Engagement wurde sie im vergangenen August mit dem Mental Health Awareness Award der Robert-Enke-Stiftung und einem Preis der Ferry-Porsche-Stiftung ausgezeichnet. »Ich hätte nie gedacht, dass ich mal losgehe und mir ein Festkleid kaufe und über einen roten Teppich laufe.« Die Aufregung ist der sonst so in sich ruhenden Frau auch nach Monaten noch anzumerken. Zwar muss sie gut aufpassen, sich nicht wieder in die Erkrankung hineinzuarbeiten, aber das Ehrenamt war für sie heilsam: »Wenn ich so zurückschaue, habe ich durch die Aufgaben viel mehr Selbstbewusstsein erlangt. Am Anfang ist es mir
schwergefallen, vor einer Gruppe zu sitzen. Das macht mir heute nichts mehr aus. Ich bin mit den Aufgaben ein Stück weit gesundet.« 
 

»Ich bin mit den Aufgaben ein Stück weit gesundet.« 

Brigitte Mothes