»Corona hat die Ungerechtigkeit verschärft«
Kinder und Jugendliche trifft die Pandemie besonders – dabei wurden sie an vielen wichtigen Entscheidungen nicht einmal beteiligt, kritisiert Christian Kurzke. Der Studienleiter Jugend der Evangelischen Akademie Sachsen befürchtet bleibende Herausforderungen besonders für ohnehin Benachteiligte.
Text: Andreas Roth
Herr Kurzke, geht jetzt für alle Kinder, Jugendlichen und Menschen in sozialen Notlagen das Leben weiter wie vor Corona?
Studien zeigen, dass mittlerweile jeder dritte junge Mensch konkrete psychische Belastungen hat. Auch die häusliche Gewalt hat zugenommen. Hinzu kommt, dass der schulische Leistungsdruck wieder eingesetzt hat, als ob nichts gewesen wäre. Durch die Corona-Schutzmaßnahmen haben viele Kinder und Jugendliche Kontakte verloren und bis heute fallen viele außerschulischen Angebote weg oder finden nur eingeschränkt statt. Verglichen mit der Dauer eines Erwachsenenlebens betrifft die Corona-Pandemie bei jüngeren Menschen einen viel größeren Abschnitt des Lebens. All das hinterlässt bleibende Spuren und ist definitiv anders als vor der Pandemie.
Wer bleibt zurück?
Die Corona-Pandemie ist für alle Kinder und Jugendliche eine Unzeit des Jungseins gewesen. Aber für junge Menschen, die in einem materiell prekären Umfeld aufwachsen mit den damit verbundenen Folgen für Gesundheit und mangelnde Chancen, hat sich ihre prekäre Lage noch einmal verfestigt. Überhaupt wurden junge Menschen in der Pandemie auch dadurch marginalisiert, weil sie nicht an den Entscheidungen zu den Corona-Maßnahmen beteiligt worden sind – obwohl sie direkt von ihnen betroffen waren. Das ist eine konkrete ungute Erfahrung der Grenzen des aktuellen demokratischen Systems und es gilt, diese Erfahrung aufzuarbeiten wie auch konkrete Beteiligungsmöglichkeiten zu eröffnen.
Welche sozialen Schieflagen vergrößern sich durch die Pandemie?
Die Ungerechtigkeit in den Bildungschancen hat sich durch Corona verschärft. An der Digitalisierung des Schulalltags konnten viele Kinder und Jugendlichen mangels Geld und Computerausstattung nicht teilhaben – die haben jetzt weniger Chancen. Viele Nachhilfeangebote fanden nicht mehr statt. Das können viele Kinder und Jugendlichen nicht mehr aufholen. Auch mit Blick auf die Gesundheit hat sich die Lage durch Corona verschärft: Bei denjenigen, die sich schon vor Corona materiell bedingt nicht sehr gesund ernährt und wenig bewegt haben, hat sich dieses Verhalten im Lockdown eingeschliffen. Auch bei den Abbrüchen von Schul- und Ausbildungsverhältnissen gehen die Zahlen deutlich nach oben.
Steuert die Politik angemessen gegen?
Es sind viele in der Verantwortung – nicht nur die Politik, auch die Gesellschaft insgesamt. Im Lockdown hat die Politik finanzielle Schutzschirme geschaffen für Angebote für junge Menschen, das war ganz wichtig. Aber sie gelten nur für einen begrenzten Zeitraum – doch Menschen und Handlungsfelder müssen sich erst von der Pandemie erholen, das braucht Zeit. Wenn ich die Programme der Parteien zur Bundestagswahl nach Themen für junge Menschen durchsuche, dann finde ich vieles Wichtige nicht. Mir fehlt beispielsweise eine konkrete Antwort darauf, wie junge Menschen digital teilhaben können auch außerhalb der Schule, etwa in der Jugendarbeit. Die Pandemie hat die Kommunen stark finanziell belastet. Viele kündigen schon jetzt massive Einschnitte in der Jugendarbeit an, wenn die Bundes- oder Landesebene das nicht auffangen.
Ist Kirche Teil des Problems – oder Teil der Lösung?
Wenn ich die Bibel in die Hand nehme und in ihr nach Antworten blättere, finde ich unglaublich starke Aussagen für die Rechte des Kindes. Wenn dem etwas entgegensteht, ist es unchristlich. Die Frage ist: Beschränkt sich Kirche auf die Begleitung der Schwachen in der Gesellschaft – oder bezieht sie auch öffentlich und politisch Position? Die Diakonie tut das sehr stark etwa beim Thema Armut. Und die Schulstiftung der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens hat schon vor der Pandemie das digitale Lernen sehr stark thematisiert. Davon haben die freien christlichen Schulen in Sachsen im Lockdown massiv profitiert.
Gibt es auch positive soziale Entwicklungen, die die Pandemie angestoßen oder verstärkt hat?
Junge Menschen haben sich in der Corona-Pandemie neu verortet in unserer Gesellschaft – im Guten wie im Schlechten. Sie haben sich ausgegrenzt gefühlt – aber zugleich haben viele in der Gesellschaft gemerkt, wie wichtig die Bedürfnisse junger Menschen sind und dass sie beteiligt werden müssen an Entscheidungen, die sie betreffen. Auch in der Politik sind Jugendthemen jetzt stärker verankert als zuvor. Die jungen Menschen selbst gehen aus der Pandemie hoffentlich gestärkt heraus. Mit einer eigenen Position und der Zuversicht, dass sie sich einbringen können – und müssen. Und hoffentlich konnten sie auch erfahren, was eine Solidargemeinschaft bedeutet: Sie haben auf vieles verzichtet, um andere zu schützen – aber dafür braucht es auch die Erfahrung, dass diese Solidarität ebenso andersherum funktioniert.
Das Gespräch wurde Anfang November 2021 geführt
Vorhersehbar – veränderbar
Corona: Soziale Kosten – soziale Folgen
Die Folgen der Pandemie für junge Menschen und die Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe waren mindestens absehbar, denn sie stehen in konkretem Bezug zur Sozial- wie auch Kinder- und Jugendpolitik: viele während der Pandemie festgestellten Herausforderungen basierten auf Problemlagen, die bereits vor der Pandemie bekannt waren. Was haben unsere Gesellschaft und die relevanten Akteure gelernt? Wo wird bereits nachgesteuert? In welchen Bereichen besteht weiterhin die Gefahr sich verfestigender problematischer Lebenslagen und herausfordernden Situationen in den Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe? Welche Erfahrungen und Lösungsansätze haben kirchliche Träger einzubringen?
13.–14. Juni 2022 // Mo–Di Haus der Kirche – Dreikönigskirche Dresden
Kooperation: Evangelische Hochschule Dresden, Fachhochschule Erfurt
Leitung: Christian Kurzke
Tagungsnummer: 22-102