Kinder an die Macht!

»Die Welt gehört in Kinderhände! «, singt Herbert Grönemeyer in einem seiner bekanntesten Lieder. In Thalheim im Erzgebirge wählen die Sieben bis Zwölfjährigen in der Stadt zumindest ihren eigenen
Kinderbürgermeister oder ihre Kinderbürgermeisterin. Zur Landtagswahl 2024 war es wieder soweit.


Text: Iris Milde // Fotos: Dietrich Flechtner

An dem langen Massivholz-Tisch, an dem sonst der Stadtrat tagt, sitzen an diesem Dienstag Anfang September sechs Kinder zwischen 8 und 12 Jahren, vier Jungen und zwei Mädchen. Sie wollen wissen: Wer wird die nächste Kinderbürgermeisterin oder der nächste Kinderbürgermeister von Thalheim?

Und sie alle haben sich zur Wahl gestellt. Am 1. September waren in dem Erzgebirgsstädtchen neben den Erwachsenen auch die Kinder zwischen 7 und 12 Jahren aufgerufen, ihren künftigen Vertreter zu wählen. »Willkommen zu einem historischen Moment in Thalheim, zur Auszählung der Kinderbürgermeisterwahl!«,
begrüßt der Bürgermeister der Kleinstadt Nico Dittmann die Kinder und deren Eltern. »Es ist ganz wichtig, dass Kinder ein Mitspracherecht bekommen, denn es ist schön, wenn Kinder Ideen einbringen und wissen, dass ihre Meinung zählt.«

Der studierte Informatiker Nico Dittmann (parteilos) wurde 2013 mit 28 Jahren ins Amt des Bürgermeisters von Thalheim gewählt, einer Stadt mit knapp 6000 Einwohnern. »Ein Jahr darauf hatten wir Stadtratswahlen und es gab ganz wenige, die sich überhaupt zur Wahl gestellt haben. Da habe ich mich gefragt: Warum hat denn keiner mehr Lust mitzumachen?« Während eines Besuchs in der Partnergemeinde Roßtal in Mittelfranken lernte er den dortigen Kinderbürgermeister und den Kindermarktgemeinderat kennen. »Das fand ich so toll, dass ich gesagt habe: So etwas brauchen wir auch«, erzählt Dittmann.

»Wenn wir etwas für Kinder machen wollen, brauchen wir jemanden, der weiß, wie Kinder ticken. Also einen Kinderbürgermeister.« 

Sylvia Schlicke


Kinder sollen mitentscheiden in Fragen, die sie betreffen. Aber sie sollen auch an die Demokratie herangeführt werden und erfahren, dass sie mit Engagement etwas bewirken können. Der passionierte Fußballer Nico Dittmann, der auch in der Nationalmannschaft der Bürgermeister kickt, zieht einen Vergleich zum Vereinssport: »Wenn du als Kind Fußball spielst, dann ist es in der Regel so, dass du bis zum Ende des Lebens beim Fußball bleibst. Dann machen wir es doch mit der Demokratie genauso!« Das Kalkül: Wer als Kind Demokratie hautnah erlebt hat, dem fällt es als Erwachsenen leichter, ein politisches Amt zu übernehmen. 

Die Kinder sitzen kerzengerade und gespannt auf den schweren, dunklen Ratsstühlen. Doch Nico Dittmann spannt sie auf die Folter: »Demokratie braucht Geduld, deshalb erst ein paar Zahlen.« 309 wahlberechtigte Kinder gäbe es in Thalheim, liest er vor. Davon hätten 133 Kinder ihre Stimme am 1. September in einem der vier Wahllokale abgegeben. »Ein Kind hat mitgewählt, das gar nicht wählen durfte. Das hätte bei den Erwachsenen nicht passieren dürfen«, erklärt das Stadtoberhaupt den Kindern. Doch bei der Kinderbürgermeisterwahl wird ein Auge zugedrückt, schließlich ist es ein Erfolg, dass fast die Hälfte der wahlberechtigten Thalheimer Kinder ihre Stimme abgegeben hat und nicht zuletzt sind auch die Wahlhelfer minderjährig, so wie Jasmin. Die Jugendliche mit langen blonden Haaren und schwarzem Kapuzenpulli ist ebenfalls zur Auszählung der Stimmen ins Rathaus gekommen. Sie hat schon das zweite Mal als Wahlhelferin mitgearbeitet: »Manchmal war es langweilig, aber auch interessant, wer alles kam«, erinnert sie sich an den 1. September. Die jungen Wahlhelfer werden vor der Wahl von Quartiersmanagerin Sylvia Schlicke, die sich im Auftrag der Stadt um die Kinderbürgermeister kümmert, geschult. »Die Kinder melden sich im Wahllokal mit Namen an und erhalten vom Wahlhelfer den Stimmzettel. Der Name muss dann auf der Liste abgehakt werden. Da geht schon mal was schief. Aber die Kinder sollen ja lernen, wie es ist, an einer Wahl beteiligt zu sein«, sagt sie.

Vor der Landtagswahl hat die Stadt an alle wahlberechtigten Kinder eine Broschüre mit der formalen Wahlbekanntmachung geschickt, in der sich die sechs Kandidatinnen und Kandidaten vorstellten mit ihren Ideen, was sie als Bürgermeister umsetzen wollen: Eine Naturlandschaft mit Spielgeräten, ein Kinderfest, sichere Schulwege. Mira möchte einen Schulroboter für erkrankte Kinder anschaffen, damit diese von zu Hause aus am Unterricht teilnehmen können. Eines aber treibt fast alle Kandidaten gleichermaßen um: »Ich möchte, dass das Schwimmbad wieder aufmacht«, spricht es der zehnjährige Adrian aus. 

Luca hat sich gemeinsam mit seinem besten Freund Till aufstellen lassen: »Wir wollten das einfach mal ausprobieren, weil das vielleicht Spaß macht.« Und Mira antwortet auf die Frage, warum sie kandidiert: »Ich denke, das wäre was für mich, weil ich mich sehr für unsere Stadt interessiere.« Die Kinder mussten ein kurzes Bewerbungsschreiben verfassen, erzählt die achtjährige Malwine: »Geeignet bin ich, weil ich sehr hilfsbereit und freundlich bin.« Die Kinder sind sichtlich nervös. Endlich öffnet die amtierende Kinderbürgermeisterin Alessia die vier versiegelten rot-gelben Wahlurnen, die an Schuhkartons erinnern, und schüttet deren Inhalt auf einen Tisch.


Quartiersmanagerin Sylvia Schlicke und Bürgermeister
Nico Dittmann sind die treibenden Kräfte hinter der Kinder- und Jugendbeteiligung in Thalheim.

Alle Thalheimer Kinder zwischen 7 und 12 Jahren erhalten eine
Kinder-Wahlbenachrichtigung.

Alessia ist seit 2022 Kinderbürgermeisterin von Thalheim. Am 31. Dezember 2024 endet ihre Amtszeit.

2018 fand die erste Kinderbürgermeisterwahl in Thalheim statt. Nikita und Josy hießen die erste Amtsträgerin und ihre Stellvertreterin. »Die beiden waren sehr aktiv«, erzählt Sylvia Schlicke. »Während Corona haben sie den Wandertag ›Thalheim bewegt sich‹ ins Leben gerufen. »Da waren wirklichviele mit uns unterwegs«, erinnert sich Sylvia Schlicke. 2022 erhielten Nikita und Josy den Deutschen Engagementpreis.
Während der ersten Kinderbürgermeisterwahl waren Nikita und Josy die einzigen Kandidatinnen. Zur zweiten
Wahl ließen sich schon fünf Kinder aufstellen, dabei bekam Alessia die meisten Stimmen. Sie trägt die langen, braunen Haare offen, dazu Jeans und Top, ist dezent geschminkt – eine gewöhnliche Zwölfjährige eben, die aber noch bis Ende 2024 Kinderbürgermeisterin von Thalheim ist. Selbstbewusst setzt sie sich zum Interview, gestikuliert, um ihre Aussagen zu unterstreichen. »Ich muss ehrlich sagen: Ich bin einerseits bisschen traurig, dass die Zeit endet. Aber auf der anderen Seite ist es auch eine Erleichterung, weil ich immer mehr in der Schule zu tun habe.«

Das Amt soll die Kinder nicht überlasten, deshalb haben sie maximal einen Termin pro Monat, können sich aber von ihren Stellvertretern vertreten lassen. »Kinder sind Kinder und die haben auch noch etwas anderes zu tun. Die dürfen auch mal sagen: heute nicht«, sagt Sylvia Schlicke, Beauftragte für die Kinder- und Jugendbeteiligung in Thalheim. Die Eröffnung des Weihnachtsmarktes und des Osterbrunnenfestes gehört zu den Aufgaben der Kinderbürgermeister. »Es gab schon Termine, an denen der Bürgermeister nicht konnte
und die Kinderbürgermeisterin etwas allein eröffnet hat«, so Schlicke. 

Zweimal im Jahr leitet Alessia den Kinderstadtrat, der sich neben der Kinderbürgermeisterin und ihren Stellvertretern aus den Klassensprechern aller Schulen zusammensetzt. Und auch im Erwachsenenstadtrat erstattet die Kinderbürgermeisterin Bericht oder wird zu Themen hinzugerufen, die Kinder betreffen. »Es geht darum, die jungen Leute als Experten zu befragen«, erklärt Sylvia Schlicke. Ernstgenommen hat sich Alessia von den Stadträten immer gefühlt, sagt die Zwölfjährige: »Weil die selber beeindruckt sind, dass wir uns dafür einsetzten, respektieren sie uns auch.«

Der Stadtrat hat beschlossen, dass das Schwimmbad von Thalheim, das sich viele Kinder sehnlichst zurückwünschen, saniert werden soll. Wie das Bad künftig aussieht, hat der Kinderstadtrat mitgeplant. »Ich habe immer gedacht, wir müssen das besonders toll bauen: Riesenhalle, Solebecken, Erlebniswelt«, so Erwachsenenstadträtin Johanna Stampfer, »Die Kids haben uns dann beigebracht: Wir wollen hauptsächlich was zum Platschen. Und so ist aktuell der Plan.« Dass Erwachsene immer die Kosten im Hinterkopf haben, hemmt sie in ihrer Kreativität, das hat Alessia während ihrer dreijährigen Amtszeit festgestellt:
»Kinder denken viel weniger über Geld nach und haben deshalb auch Visionen. Wenn etwas zu teuer werden könnte, denken Erwachsene gar nicht weiter, obwohl es am Ende vielleicht sogar im Budget liegen würde.«

Am 1. September 2024 haben in Thalheim auch die Kinder gewählt. Kinderbürgermeisterin Alessia schüttet die Wahlurnen aus. Die Auszählung kann beginnen.

Alessia, Sylvia Schlicke, Nico Dittmann und Stadträtin Johanna Stampfer zählen die Stimmen aus. Nur ein Wahlzettel ist ungültig, weil ein Kind zwei Kandidaten seine Stimme geben wollte.

Bürgermeister Nico Dittmann, Johanna Stampfer, Sylvia Schlicke und Alessia sortieren die Stimmzettel auf sechs kleine Häufchen. Sylvia Schlicke hebt einen Zettel in die Höhe und zeigt ihn den Kindern: »Hier hat es einer gut gemeint und wollte gern zwei Kindern seine Stimme geben. Aber das geht nicht. Man kann nur eine Stimme vergeben. Und deshalb müssen wir den Stimmzettel ungültig auf die Seite legen.« Ein Zettel, auf dem ein Kreis statt einem Kreuz gemalt wurde, bleibt hingegen im Rennen. »Hier ist der Wählerwille eindeutig erkennbar«, sind sich die Auszählenden einig. Es sei wichtig, den Kindern zu erklären, wie demokratische Prozesse abliefen, so Bürgermeister Nico Dittmann: »Man wird ja mit der Zeit verwaltungstechnisch
blind. Wenn Kinder dabei sind, muss ich mir überlegen, wie ich komplexe Prozesse gestalten kann, damit
Kinder sie verstehen. Das ist auch für uns Erwachsene gut.« Wichtig sei ihm, den Kindern zu zeigen, dass
die Rathaustür für sie immer offenstehe: »Die Stadt ist für mich da und ermöglicht mir, Dinge zu tun. Aber nicht: die macht alles für mich.«

Auf den Zuschauerplätzen im Ratssaal sitzen die Eltern der Kandidaten. Juliane Lücke ist die Mutter des neunjährigen Luca: »Ich finde, das ist eine gute Sache, die Kinder sollen mitteilen, welche Bedürfnisse sie haben, was sie für sich und ihre Mitmenschen verändern wollen. Kinder werden zu wenig gehört. Deswegen unterstützen wir das.« Ohne die Eltern gehe es nicht, so Quartiersmanagerin Sylvia Schlicke, denn sie müssen ihr Einverständnis geben, dass ihr Kind kandidiert: »Die Kinder sind dann schon öffentliche Personen, aber ich versuche, das im Rahmen zu halten. Nikita hatte auch mal einen Blackout vor 500 Leuten, aber der Bürgermeister stand neben ihr und hat das überspielt.«

Finanziert wird das Kinderbürgermeisterprojekt in Thalheim derzeit aus dem Bundesprogramm »Demokratie leben!«. »Seit wir das Projekt haben, gibt es im Haushalt immer Geld für Kinder- und Jugendbeteiligung«, sagt Sylvia Schlicke bestimmt. »Das kostet nicht so viel, wie es wert ist«, bekräftigt Bürgermeister Nico Dittmann. Er bemüht sich derzeit, nicht nur die Kinder-, sondern auch die Jugendbeteiligung in Thalheim weiter auszubauen. So fand im Sommer ein Pizzaessen mit dem Bürgermeister im Park statt, im Oktober
eine Jugend-Einwohnerversammlung: »Wenn Kinder und Jugendliche mitgestalten, dann steigt die Wertschätzung für die Dinge, an denen sie beteiligt waren und auch für ihre Heimatstadt«, ist das Stadtoberhaupt überzeugt.

»Ob es etwas gebracht hat, werden wir sehen, wenn sie hoffentlich als Erwachsene für den Stadtrat kandidieren.« 

Nico Dittmann


Endlich steht das Ergebnis fest: Luca ist der neue Kinderbürgermeister von Thalheim. Seiner Mutter Juliane Lücke stehen die Tränen in den Augen. »Mal sehen, wohin die Reise geht. Wir lassen es auf uns zukommen und stärken ihm den Rücken.« Miles und Lucas Freund Till sind die Zweit- und Drittplatzierten. Sie sind damit zu Lucas Stellvertretern gewählt. Miles hat ganz konkrete Pläne, was er in Thalheim verändern will: »Ich will Thalheim sauberer gestalten, weil ich finde, es liegt wirklich sehr viel Müll rum. Dann wäre es schön, wenn es auf der Hauptstraße einen Zebrastreifen gäbe, damit die Kinder sicherer über die Straße kommen.«

Alessia überreicht jedem Kind eine Blume und Bürgermeister Nico Dittmann betont: »Ihr könnt alle stolz auf
euch sein, egal wie es ausgegangen ist. Ihr könnt Vorbilder sein für eure Freundinnen und Freunde. Ihr habt euch getraut. Und wenn ihr älter seid, steht ihr vielleicht hier und lenkt die Geschicke der Erwachsenen.«

Luca hat 44 Stimmen erhalten und ist damit am Januar 2025 der neue Kinderbürgermeister von Thalheim. Der Zweiplatzierte Miles und der Drittplatzierte Till werden seine Stellvertreter. 

Sechs Kinder haben sich zur Wahl gestellt. Nach zwei Josy und Alessia wird mit Luca nun das erste Mal ein Junge Kinderbürgermeister von Thalheim.