»Wir wollen eine Konstante
im Leben der Kinder sein«
Der Stadtbezirk Dresden- Prohlis ist bekannt für ausgedehnte Plattenbauviertel.
Viele Menschen mit geringem Einkommen leben dort auf engem Raum. Der Verein
Stoffwechsel macht Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche und ist doch kein
gewöhnlicher sozialer Träger.
Text: Iris Milde // Fotos: Iris Milde, Steffen Giersch
Die Herzberger Straße ist ein Ring aus Plattenbauten in Prohlis. Auf vier Seiten ragen Zehngeschosser in
den Himmel. Hier hat der christlich-soziale Verein für Kinder-, Jugend- und Familienarbeit Stoffwechsel e.V. seinen Sitz. Aus einer Wohnung im Hochparterre dringen laute Stimmen. Es ist Freitag, Teen-Club im Stoffwechsel. Etwa ein Dutzend Jugendliche liefern sich einen Wettbewerb darin, wer es schafft, die meisten der kleinen Styroporstifte, die auf dem Teppich verteilt sind, auf das Feld der anderen Mannschaft zu
befördern. Lukas Mann krabbelt mit allen anderen über den Boden. Der 27-Jährige leitet das Stadtteilbüro von Stoffwechsel. »Wir wollen einen Ort bieten, an den die Jugendlichen und Kinder kommen können, egal, wie sie drauf sind oder was sie gerade beschäftigt«, sagt er. »Wir bringen ihnen Wertschätzung entgegen, zeigen ihnen, dass wir sie so mögen, wie sie sind.« Viele der Jugendlichen wachsen unter erschwerten Bedingungen
auf. Leon, ein schmächtiger Junge in schwarzer Bikerjacke, auf der ein Totenkopf prangt, möchte seine Kopfhörer auch im Teen-Club nicht absetzen, denn die sind ihm heilig: »Ich teile mir ein Zimmer mit meinen drei jüngeren Geschwistern. Ohne Kopfhörer geht das gar nicht.«
Nicht nur "nettes" Programm
Die Mitarbeiter von Stoffwechsel bereiten für jeden Teen-Club Workshops oder Spiele vor. Das Ziel sei aber nicht nur, ein »nettes« Programm zu bieten, bei dem jeder seine Gaben entdecken kann, so Lukas Mann. »Wir von Stoffwechsel wolleneine enge und ehrliche Beziehung zu den Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern aufbauen. Denn konstante und gesunde Beziehungen sind das, was viele hier nicht kennen.« An diesem
Freitagabend sind fünf Mitarbeiter von Stoffwechsel für etwa ein Dutzend Jugendliche da. »Wenn es einem Jugendlichen nicht gut geht, dann kann ich mir die Zeit nehmen, mit ihm oder ihr zu sprechen, weil wir so viele Mitarbeiter sind«, sagt Lukas Mann. Er ist studierter Theologe. Gemeinsam mit seiner
Frau entschied er sich ganz bewusst, an einen sozialen Brennpunkt zu ziehen. Inzwischen haben die beiden einen Sohn. »Wir genießen es sehr, in Prohlis zu wohnen. Wenn wir einkaufen oder auf den Spielplatz gehen, dann treffen wir dort die Kinder und ihre Familien. Wir teilen den Alltag miteinander.«
Ein großer Junge mit blassem Gesicht legt den Arm um Lukas Manns Schultern, schmiegt sich an. Der Seelsorger und der 14-Jährige kennen sich erst seit wenigen Monaten. Vor den Sommerferien habe sich die Schule an Stoffwechsel gewandt, weil Tom seit Monaten nicht mehr in die Schule gekommen war. »Keiner kam an ihn ran. Als er das erste Mal vor mir saß, hatte er geschwollene Augen, die Kapuze über dem Kopf und
die Hände in den Hosentaschen. Er hat nur ›mhm‹ gesagt und mir nicht in die Augen geschaut.« Trotzdem trat der Junge am nächsten Tag sein einwöchiges Praktikum bei Stoffwechsel an. »Und schon am ersten Abend fragte er mich, ob er das Praktikum verlängern darf.« Auch nach seinem Praktikum blieb
Tom, nahm an den Sommerferienangeboten von Stoffwechsel teil. »Jetzt kann man auch über das Thema Schule ganz anders mit ihm reden, weil er weiß, dass ich für ihn bin.« Mitschüler hatten Tom gemobbt, trotzdem geht er inzwischen wieder zur Schule und er hat ein Ziel: »Ich will Busfahrer werden.«
Teamspiele aber auch Gespräche zum Thema »Wer bin ich?«
stehen an diesem Freitag auf dem Programm des Teen-Clubs.
»Hier in diesem geschützten Raum können die Jugendlichen
ein Vertrauensverhältnis
zueinander aufbauen.« (Lukas Mann)
Lukas Mann verkleidet als Kapitän Einauge. Nach seinem Studium arbeitete der Theologe in einer freien Evangelischen Gemeinde als Pfarrer und ehrenamtlich für den Stoffwechsel. Nun leitet der Seelsorger das Stadtteilbüro Prohlis.
Das Zubereiten von Essen und die gemeinsam eingenommene
Mahlzeit sind feste Rituale
im Teen-Club und im Abenteuerland. Die Teilnehmer sollen mit eigenen Aufgaben Verantwortung übernehmen.
Mit dem Stoffwechsel die Kurve gekriegt
Am Mittwoch treffe ich Tom wieder zum Abenteuerland. Das Lobpreishaus, ein Wohnprojekt von sieben Familien in Prohlis, stellt seinen Garten zur Verfügung, damit die Stoffwechselkinder dort einmal in der Woche im Grünen toben können. Parallel bietet Stoffwechsel in dem sanierten Bauernhaus das Eltern-Café an. Das Eltern-Café ist wie das Abenteuerland für Kinder ein Ort zum Aufatmen für die Eltern, wo sie sich
gegenseitig austauschen und mit den Mitarbeitern ins Gespräch kommen können. Tom sitzt im Garten auf der Hollywoodschaukel und schaut den Jüngeren beim Fußballspielen zu. »Wenn ich Zeit habe, komme ich zum Stoffwechsel. Ich habe das Tipi hier mitgebaut. Gestern hat mich Lukas eingeladen zum Holzhacken. Da konnte ich leider nicht«, bedauert er aufrichtig. Tom hat sich innerhalb weniger Wochen in einen fröhlichen und aufgeschlossenen Jugendlichen verwandelt. Er hat die Kurve gekriegt. »Solche krassen Geschichten
sind selten, aber die bestärken uns darin, dass es richtig ist, was wir hier tun«, lächelt Lukas Mann.
Der Seelsorger ist an diesem Nachmittag verkleidet als Kapitän Einauge. Er trägt Latzhose und eine Seemannsmütze auf dem Kopf. Das Programm beginnt mit einem Tanz im Kreis. Aus einer Musikbox schallt: »Unser Schiff ist auf der Flucht, wo sind wir jetzt gelandet, unser Zuhause ist kaputt, wir sind im Abenteuerland gestrandet, die Reise geht jetzt los, wir sind nicht allein, denn Jesus ist dabei!« Die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Stoffwechsel sind alle gläubige Christen und sie machen aus ihrem Glauben keinen Hehl.
»Wir wollen unseren Glauben nicht verstecken, weil er unsere Arbeit prägt«, sagt Friederike Michalik.
Sie ist zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit bei Stoffwechsel. »Wir teilen unseren Glauben und sagen, was er mit uns macht, aber haben nicht das Gefühl, dass wir andere davon überzeugen müssen und sind auch offen für Kritik und Zweifel.««, sagt Friederike Michalik. Sie ist zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit bei Stoffwechsel. »Wir teilen unseren Glauben und sagen, was er mit uns macht, aber haben nicht das Gefühl, dass wir andere davon überzeugen müssen und sind auch offen für Kritik und Zweifel.«
Die Kinder und Jugendlichen lernen beim Ponyprojekt von Esther Leonhardt, wie man die Tiere versorgt, welche Pflanzen Pferde fressen dürfen und natürlich Reiten. Kuscheln mit Stoffwechselpony Speedy gehört natürlich auch dazu.
Belastendes an Gott abgeben
Stoffwechsel wurde 1993 von Sabine Ball gegründet. Geflohen aus Königsberg hatte sie die Bombennacht in Dresden 1945 erlebt. Nach Jahrzehnten in Amerika kehrte sie in die Elbestadt zurück und fand auf den Straßen in der Dresdner Neustadt viel Elend, Hoffnungslosigkeit und auch Drogenabhängigkeit. Die Evangelistin eröffnete ein Ladenlokal als sozialen Treffpunkt und sorgte dort für den Stoffwechsel innen
und außen: Sie bot warmes Essen, Kleidung und vor allem Gespräche auf Augenhöhe an. Inzwischen
gibt es Stoffwechsel in der Neustadt, in Prohlis, Pieschen und Gorbitz. Der Verein beschäftigt 23 Hauptamtliche und 15 Praktikanten bzw. Bundesfreiwillige. Alle Angebote sind kostenlos und ebenso wie das Personal ausschließlich aus Spenden finanziert. »Das gibt uns mehr Freiraum als eine öffentliche Finanzierung«, sagt der Leiter des Stadtteilbüros Prohlis Lukas Mann. »Wenn wir merken, eine Familie
braucht Hilfe, dann können wir uns die Zeit nehmen und sie drei Mal in der Woche besuchen, wenn das gerade nötig ist.« Dank der engen Beziehung, die die Mitarbeiter zu den Kindern und Jugendlichen pflegen, erfahren sie auch viel Belastendes. Wie gehen sie damit um? »Wir kommen jeden Morgen im Team zusammen und sprechen über das, was uns bedrückt. Und es hilft, Dinge im Gebet an Gott abgeben zu können und zu wissen, dass Gott auch bei den Kindern ist, wenn wir sie nicht begleiten können.«
Stoffwechsel macht Träume wahr
Dann schlüpft Lukas Mann wieder in die Rolle als Kapitän Einauge. Sein Matrose sitze im Gefängnis, erzählt er den Kindern. Er werde erst wieder freigelassen, wenn die ganze Mannschaft, also die Kinder im Abenteuerland, eine Schifffahrtsmitfahrgenehmigung vorweisen können. Dafür haben die Mitarbeiter im Garten Stationen aufgebaut. Elias Hägele, der seinen Freiwilligendienst bei Stoffwechsel macht, taucht
einen Teller in einen Eimer mit Schlamm und reicht ihn den Kindern mit einem Lappen. »Der Teller muss blitzesauber sein wie das Deck. Schafft ihr das?« Die Kinder schrubben los. Nachdem alle ihr Zertifikat erhalten haben, setzen sich die Kinder um die Feuerstelle. Vor dem Essen wird gebetet und als alle Kinder eine Schüssel Nudeln in den Händen halten, spielen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Geschichte
der drei jungen Männer im Feuerofen aus der Bibel vor. Juliane Spitzenfeil steht neben ihrem dreijährigen Sohn und schaut zu. »Ich finde, hier sind alle sehr freundlich und die haben auch wirklich ein tolles Angebot.« Ihre drei Kinder seien seit Jahren bei Stoffwechsel, erzählt sie. Vor allem sei sie froh, dass ihre mittlere Tochter durch Stoffwechsel die Möglichkeit habe, reiten zu gehen. »Sie liebt Pferde und ich war immer traurig,
dass ich ihr das nicht ermöglichen kann, weil das ja wirklich eine Stange Geld kostet.« Auf einem Bauernhof bei Kreischa hält der Verein zwei Ponys. Drei Mädchen und drei Mitarbeiterinnen laufen über einen Feldweg zur Koppel. Der Matsch schmatzt unter ihren Reitstiefeln. Die Mädchen streicheln die Nüstern der Pferde,
legen den Kopf an die Hälse der Tiere. Doch vor dem Ausritt muss der Unterstand der Pferde ausgemistet
werden. Die Mädchen greifen sich Schaufeln und stoßen sie in die braune Masse aus Pferdeäpfeln. Keine murrt, nur die achtjährige Lisa bemerkt: »Bäh, das stinkt.« Die Arbeit gehört zum Reiten dazu und ist wichtig, meint Esther Leonhardt. Die junge Psychologin leitet das Ponyprojekt. Die Mädchen lernen Teamarbeit
und Verantwortung zu übernehmen. Und auch das Reiten geht bei Stoffwechsel über den heilpädagogischen Aspekt hinaus, so Esther Leonhardt: »Die Pferde spiegeln einem innere Haltungen. Wenn ich unsicher bin und kein Ziel vor Augen habe, dann geht das Pferd nicht weiter. Die Kinder lernen vor allem Selbstwirksamkeit.« Esther Leonhardt erzählt von einem Jungen mit einer langen Missbrauchsgeschichte, der dank der Pferde gelernt habe, sich selbst und anderen wieder zu vertrauen. Nun hat er eine Ausbildung begonnen. Es gelinge nicht immer, die Kids aus schwierigen Verhältnissen herauszuholen, sagt die Psychologin nachdenklich:
»Aber so mancher wäre ohne Stoffwechsel ganz woanders ge-landet.« (Esther Leonhardt)
Hinweis: Die Namen aller Kinder und Jugendlichen in diesem Text wurden geändert.
Stoffwechsel e. V.
Der christlich-soziale Verein für Kinder-, Jugend- und Familienarbeit Stoffwechsel e. V. feierte 2023 sein
30-jähriges Bestehen. Er unterhält Stadtteilbüros in der Dresdner Neustadt, Prohlis, Pieschen und Gorbitz.
Als sozialer Träger konzentriert sich Stoffwechsel auf die Arbeit in sozialen Brennpunkten. Dazu gehören offene Kinder-, Jugend- und Elterntreffs sowie aufsuchende Familienarbeit. Alle Angebote sind für die Familien kostenlos und werden durch Spenden finanziert.
https://stoffwechsel.org/