Urlaub am OP-Tisch

Annett Richter ist OP-Schwester in Freital. Ein- bis zweimal jährlich reist sie mit einem Team aus einem
Plastischen Chirurgen und Krankenpflegern nach Tansania, um dort Menschen zu operieren, die sich
eine medizinische Behandlung nicht leisten können.

Text: Iris Milde // Fotos: Steffen Giersch, Interplast Germany

Wer bei Plastischer Chirurgie an Schönheitsoperationen denkt, liegt bei Interplast Germany falsch. »Es geht vor allem darum, die Funktionalität wiederherzustellen«, sagt Annett Richter. Die Mittvierzigerin ist eine fröhliche Frau, sie lacht viel und herzlich. Im Klinikum in Freital arbeitet sie als leitende OP-Schwester.
Daneben engagiert sie sich ehrenamtlich für die Organisation Interplast Germany. Diese wurde 1980 in Frankfurt am Main gegründet mit dem Ziel, plastisch-chirurgische Hilfe in Entwicklungsländern zu leisten. Etwa 80 Einsätze führt Interplast Germany pro Jahr weltweit durch. Das erste Mal Zwei Arbeitsplätze in unterschiedlichen Welten. Annett Richter vor dem Weißeritztal-Klinikum in Freital und mit Kollegen aus Sachsen im Lutheran Hospital in Ilembula. »Es macht mir Freude, den Leuten zu helfen und mein Wissen weiterzugeben.« war Annett Richter im Frühjahr 2019 in Sumbawanga, einer Großstadt im Westen Tansanias. »Das war sehr schlimm für mich. Nicht wegen des Einsatzes, sondern wegen der Armut. Ich habe meine
ganzen Anziehsachen dort gelassen, Schlüpfer, Socken, alles. Die Menschen haben nichts.« Die vergangenen drei Einsätze führte das Team von Annett Richter, das in der Regel aus einem Plastischen Chirurgen, einem Anästhesisten, einem Anästhesie-Pfleger und einer OP-Schwester besteht, in das Dorf Ilembula im südlichen
Hochland von Tansania, zuletzt im Frühjahr 2023. »Das ist so ein krasser Gegensatz zur Stadt. Wenn ich morgens zum Krankenhaus laufe, grüßen mich alle mit ›Annetti‹. Dort fühle ich mich wohl.«

Häufigste Diagnose: Verbrennungen
Ansprechpartner vor Ort für das Team von Interplast ist das deutsche Ehepaar Ursula und Werner Kronenberg. Sie arbeitet in Ilembula als Auslandspfarrerin, er als Chirurg im dortigen Lutheran Hospital. Sobald sich ein medizinisches Team aus Sachsen ankündigt, trifft Werner Kronenberg eine Vorauswahl der Patienten. Etwa 30 bis 40 von ihnen versorgen die Mediziner in zwei Wochen. Häufigste Diagnose:
Verbrennungen und Verbrennungskontrakturen. »In den Lehmhütten befinden sich offene Feuerstellen, um
die die Kinder spielen. Dann fallen sie mal rein und wenn keiner die Verbrennung behandelt, zieht sich die Haut über die Jahre zusammen und dann können sich die Kinder nicht mehr richtig bewegen.« Die OP-Schwester erzählt von der Enkelin des Nachtwächters der Bungalowsiedlung, in der sie in Ilembula wohnen. »Das muss ich zeigen«, sagt sie und steht auf, geht halb in die Hocke und watschelt los. »Die ist so gelaufen, weil sie schlimme Kontrakturen nach Verbrennungen in den Kniekehlen hatte. Wir haben sie wieder aufgerichtet.«

»Es macht mir Freude, den Leuten zu helfen und mein Wissen weiterzugeben.« (Annett Richter)

Zwei Arbeitsplätze in unterschiedlichen Welten.
Annett Richter vor dem Weißeritztal-Klinikum in
Freital...

...und mit Kollegen aus Sachsen im Lutheran Hospital in Ilembula.

Beste Kolleginnen und
Freundinnen: Schwester
Gertrud und Annett Richter.

Das Team kommt samstagabends in Ilembula an und am Sonntag geht es als Erstes in den Gottesdienst. Obwohl Annett Richter nicht gläubig ist, mag sie diesen Termin: »Weil das ein schönes Erlebnis ist. So freudig und schöner Gesang«, schwärmt sie. Wenn sie aus der Kirche kommen, sind schon alle Patienten da für eine erste Begutachtung. Viele nehmen weite Strecken auf sich, um von den Sachsen behandelt zu werden. Denn Krankenhäuser gebe es in Tansania jede Menge, sagt die Krankenschwester, aber viele könnten sich den Aufenthalt dort nicht leisten. Die Behandlung durch Interplast Germany ist für die Patienten kostenlos. Verbandsmaterial, Geräte, Medikamente und Reisekosten sind spendenfinanziert. Das Personal arbeitet
unentgeltlich. Zuletzt wurde Annett Richter von ihrem Arbeitgeber, den Helios-Weißeritztal-Kliniken in Freital, tageweise freigestellt. »Wir sind stolz darauf, dass sich unsere Mitarbeiter mit ihrem Fachwissen sozial engagieren«, so Klinikgeschäftsführer Philipp Smolka. Normalerweise aber nimmt sich Annett Richter Urlaub, um nach Tansania zu fliegen: »Ich bin sowieso kein Mensch, den es auf die Strandliege nach Mallorca zieht.«

Ohne die Sachsen wäre der Fuß amputiert worden
Sie fischt ihr Handy aus der Tasche ihres Kittels und zeigt ein Foto. Auf dem Bild ist ein Fuß zu sehen, dessen Ferse aus vielen Einzelteilen zu bestehen scheint. »Das Mädchen wurde von einem Moped angefahren und da war hinten die ganze Ferse bis zur Hälfte alles ab, der ganze Knochen.« Das Kind hatte Glück, dass das Team aus Deutschland gerade in Ilembula war, sonst wäre der Fuß amputiert worden, vermutet Annett Richter und schaut fasziniert auf das Bild. »Das ist alles mit Spalthaut erst genäht und dann gespickt. Und das sieht doch jetzt super aus, oder? Darüber freue ich mich. Das sind schöne Momente.«

Tansania lässt Annett Richter auch in Deutschland nicht los. »Alle bleiben in Erinnerung. Die Menschen geben
einem so viel zurück, die Mitarbeiter und die Patienten.« Annett Richter nippt an ihrem Kaffee und scrollt durch die Fotos. Viele Bilder sind schwer zu ertragen. Viel schlimmer ist es für die kleinen Patienten, mit diesen Entstellungen zu leben. »Schlecht wird Ihnen nicht, oder?« Annett Richter hält mir ein Bild von einem blutigen Schädel vor die Augen. »Der Junge hatte sich den Kopf verbrannt. Wir haben hier überall Haut draufgemacht.« In stundenlanger Sisyphusarbeit nahm der mitgereiste plastische Chirurg Dr. Jens-Peter
Sieber vom Helios-Klinikum Pirna Hautstückchen an anderen Körperpartien ab und puzzelt sie auf dem Kopf des Jungen wieder zusammen. »Wir Pfleger können ja immer mal rausgehen und uns abwechseln, aber für den Arzt ist es ein Knochenjob.« Auf dem nächsten Foto sehen wir den Jungen mit Kopfverband. »So sieht er aus, die kleine Maus. Bisschen fiebrig noch. Wie es verheilt ist, werden wir jetzt im November sehen, wenn er zur Kontrolle kommt.«

Dieser kleine Patient hatte als Baby aufgrund einer Bronchitis-erkrankung eine Flexüle im Kopf. Rundherum hat sich die Kopfhaut großflächig entzündet, sodass Haut auf den Kopf transplan-
tiert werden musste.

Die Kopfhauttransplantation
ist gut verlaufen. Der kleine Patient kann sich gesundschlafen.

Dieser Junge hatte Verbren-
nungen durch heißes Öl. Nach der OP ist die ganze Familie erleich-
tert.

 

Im November soll es zum fünften Mal nach Afrika gehen. Drei Wochen Urlaub am OP-Tisch. Bei unserem Gespräch im Oktober hat sie den ersten von zwei Koffern schon wieder gepackt, prall gefüllt mit medizinischem Material und Geschenken. »Wir suchen immer kleine Mitbringsel, die wir den Kindern geben können, Plüschtiere oder kleine Autos. Sobald man denen etwas gibt, fassen sie Vertrauen und werden ruhiger.« Annett Richter freut sich auch auf Schwester Gertrud, mit der sie inzwischen eine Freundschaft
verbindet. Sechs Tage die Woche arbeiten die beiden Frauen Seite an Seite, sonntags gönnen sie sich einen
Bummel auf dem Markt. Annett Richter zeigt der jungen Kollegin viele Handgriffe und Techniken. »In der Stadt Sumbawanga stand ich den ganzen Tag am OP-Tisch und habe mitoperiert. In Ilembula ist es so, dass die Einheimischen operieren und ich leite sie während der OP an. Mir und unserem Team ist das ganz wichtig, dass wir unser Wissen weitergeben.« Mit welchem Gefühl fährt die Freitalerin dieses Mal nach Tansania? 

»Freude, einfach nur Freude!« (Annett Richter) 


Interplast Germany

Interplast Germany wurde 1980 in Frankfurt am Main gegründet mit dem Ziel, plastisch-chirurgische Hilfe in Entwicklungsländern zu leisten. Etwa 80 Einsätze führt Interplast Germany pro Jahr weltweit durch. Die Behandlung durch Interplast Germany ist für die Patienten kostenlos. Die mitreisenden Mediziner arbeiten ehrenamtlich. Verbandsmaterial, Geräte, Medikamente und Reisekosten sind spendenfinanziert.
https://interplast-germany.de/