Leid als Gottesgeschenk?

Jasmin Fuchs hatte mit 18 Jahren einen Schlaganfall. Darüber schrieb sie das Buch »Kurzschluss im Kopf.
Wie Gott mir meinen Schlaganfall schenkte«. Im Interview mit SINN und dem Theologieprofessor
Peter Zimmerling erzählt sie, warum sie für diese Erfahrung dankbar ist.


Das Gespräch führte Iris Milde.

Frau Fuchs, wovon handelt Ihr Buch?
Fuchs: Ich schreibe darüber, dass ich mit 18 Jahren einen Schlaganfall hatte und danach mehrmals zur Reha war. Ich erzähle, wie ich aus dem Bett in den Rollstuhl gekommen bin und wieder Laufen gelernt habe. Es geht aber nicht nur um meine körperliche Genesung, sondern auch darum, was ich mit Gott erlebt habe und was das mit meinem Glauben gemacht hat.

»Wie Gott mir meinen Schlaganfall schenkte« – Herr Professor Zimmerling, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie diesen Titel hören?
Zimmerling: Spontan habe ich gedacht, eine junge Frau, die so einen Titel wählt, das ist heute schon mutig. Ich habe gestern erst einen Artikel von einem Pfarrer gelesen, der ganz vehement abstritt, dass Gott überhaupt irgendetwas mit Leid zu tun hat. Er ist zu dem Schluss gekommen, dass Gott gar nicht in unser Leben eingreift. Allerdings könnten wir, wenn wir Leid erfahren, mit ihm sprechen und auf diese Weise getröstet werden.

War der Untertitel provokativ gewählt oder haben Sie den Schlaganfall tatsächlich als Geschenk
empfunden, Frau Fuchs?

Fuchs: Der Titel ist nicht als Provokation, sondern als Einladung gemeint. Natürlich ist er so gewählt, dass sich
das Buch verkauft, aber ich bin auch überzeugt davon.

Inwiefern war dieser Schicksalsschlag ein Geschenk für Sie?
Fuchs: Ich erachte es als Privileg, dass Gott gesagt hat: Du darfst das alles erleben. Diese Zeit war natürlich
sehr schwer. Das will ich überhaupt nicht kleinreden. Aber ich habe auch unfassbar viel Segen erlebt, weil
Gott mir gezeigt hat, wer er ist, was er tun kann und was er mit mir vorhat. Ich habe durch die Erkrankung
Menschen kennengelernt, für die ich dankbar bin, dass sie in mein Leben getreten sind. Und ich habe viel gelernt über das Leben, über mich und was wirklich zählt. Das empfinde ich als großes Geschenk.

Jasmin Fuchs wurde mit 18 Jahren durch einen
Schlaganfall halbseitig gelähmt, als sie gerade im ersten Semester Evangelische Religions- und Gemeindepädagogik in Moritzburg studierte. Trotz
ihrer Erkrankung und der dadurch verursachten
Fehlzeiten hat die 23-Jährige ihr Studium im Januar erfolgreich abgeschlossen. Jetzt absolviert sie
einen Master für Erwachsenenbildung und ist weiterhin in Therapie.

Foto: privat

Prof. Dr. Peter Zimmerling ist Professor für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Seelsorge und Spiritualität. Er gilt als Bonhoefferexperte und beschäftigte sich intensiv mit Evangelischer
Mystik. Auch im Ruhestand hält der 66-Jährige noch Lehrveranstaltungen an der Universität Leipzig, an
der er zwei Jahrzehnte tätig war.

Foto: Swen Reichhold, Universität Leipzig

Wenn jemand Leid erfährt, dann ist eine der ersten Fragen: Warum trifft es mich? Herr Professor Zimmerling, als Seelsorger haben Sie schon oft Trost in schweren Stunden gespendet. Was antworten Sie den Menschen?
Zimmerling: Als ich Vikar war, also Pfarrer in Ausbildung, habe ich Krankenhausbesuche gemacht. Da haben die schwer Kranken fast immer als Erstes gesagt: Was muss ich doch für ein böser Mensch sein, dass Gott mich so straft! Als junger, kerngesunder Mensch war ich mit diesen Besuchen überfordert. Später bin ich selbst schwer erkrankt und habe dazu eine andere Einstellung gefunden. Ich versuche, im seelsorgerlichen Gespräch Leiden und Krankheit als Chance zu deuten. Nach der Hiobsbotschaft einer schweren Krebserkrankung sehen viele Menschen das Leiden zuerst nur als Strafe. Oder sie wollen die Diagnose nicht wahrhaben. Aber dann kommt irgendwann der Moment, in dem sie anfangen zu überlegen, ob dieser schwere Schlag ihnen etwas sagen könnte. Aus seelsorglicher Erfahrung und eigenem Erleben würde ich sagen – Frau Fuchs bestätigt das ja –, hinter einem Schicksalsschlag verbirgt sich etwas Tieferes.

Welche Worte haben Ihnen nach dem Schlaganfall wirklich geholfen, Frau Fuchs?
Fuchs: Was mich extrem getragen hat, ist das Wissen darum, wie viele Menschen für mich gebetet haben. Diese Gewissheit, da sind Menschen, die interessieren sich für mich und tragen mich im Gebet mit.

Sie fragen sich in Ihrem Buch immer wieder, was Gott mit Ihnen vorhat. Hat Leiden tatsächlich einen Sinn?
Fuchs: Ich finde es schwierig, Leid zu verzwecken. Ich würde eher sagen, das Leid an sich ist der Sinn. In der Sache selbst ist der Segen.
Zimmerling: Die bekannte Theologin Dorothee Sölle schrieb: Leiden ist so etwas wie Geburtsleiden. Das hat sie von den Mystikerinnen übernommen. Die sagen nämlich, dass Menschen im Leiden Jesus Christus
ähnlich werden, der selbst den Weg der Passion gegangen ist. Leiden stellt für Mystikerinnen eine Art Auszeichnung dar. Sie sind sogar überzeugt: Je mehr ein Mensch Gott liebt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er mit Jesus Christus zu leiden hat.

Herr Zimmerling, Sie haben angelehnt an Martin Luther einmal geschrieben, dass es in glücklichen Zeiten leicht sei, an Gott zu glauben. In schweren Zeiten zeige sich der wahre Glaube. Wie meinen Sie das?

Zimmerling: So lange alles wie am Schnürchen läuft, ist es leicht, Gott für alles zu danken. Wenn es aber Probleme gibt, ist es anders. Luther sagt, in schweren Zeiten findet eine Lebensvertiefung statt. Und damit
meint er auch eine Glaubensvertiefung, weil sich bei Luther Leben und Glauben gar nicht trennen lassen. Eine Vertiefung im Sinne von Qualität.
Fuchs: Der Schlaganfall passierte ja, als ich im ersten Semester meines Gemeindepädagogikstudiums war. Ich kam mit vielen Überzeugungen nach Moritzburg und habe schnell gemerkt, dass vieles von dem, was ich glaube, theologisch widerlegt werden kann. In der Klinik habe ich verstanden: Hier erlebe ich etwas, das kann mir keiner wegargumentieren. Da kann keiner sagen, das hast du falsch verstanden. Das habe ich als eine
totale Stärkung meines Glaubens erlebt.

Und wie hat sich Ihr Glaube verändert?
Fuchs: Mein Glaube ist durch die Krankheit ehrlicher geworden und ich vertraue Gott, auch wenn er gerade
nicht das tut, was ich von ihm will.

Nicht nur Krankheit verursacht Leid und Not. Auch Kriege und Naturkatastrophen stürzen viele Menschen ins Unglück. Der Philosoph Gottfried Leibniz meinte, Übel sei notwendig, damit das Gute überhaupt erkennbar wird. Wie stehen Sie zu dieser Theorie, Herr Zimmerling?

Zimmerling: Ich bin in meiner Theologie von Luther geprägt. Der Reformator versuchte, rationale Erklärungen für das Leid zu vermeiden. Aber als denkender Mensch hat er gleichzeitig versucht, eine Antwort darauf zu finden. Und die hat er darin gesehen, dass es eine dem Menschen abgewandte Seite Gottes gibt, die wir nicht verstehen können. Luther meint sogar, dass es gefährlich sei, diese unverständliche Seite Gottes zu lange zu betrachten. Dann nähme unser Vertrauen auf Gott Schaden. Wir sollten uns dem in Jesus von Nazareth offenbarten Gott zuwenden. Im Kind in der Krippe von Bethlehem hat er sein wahres, sein liebevolles Antlitz gezeigt.

Erkrankungen oder Naturkatastrophen können wir nur bedingt beeinflussen. Aber Kriege sind
menschengemacht. Und der Mensch hat einen freien Willen, sich für das Gute oder das Böse zu entscheiden.

Zimmerling: Luther war einerseits überzeugt, dass Menschen für ihr Handeln in der Welt verantwortlich
sind. Deshalb hat er den Fürsten seiner Zeit immer wieder ins Gewissen geredet, für Gerechtigkeit und Frieden zu sorgen – verbunden mit der Mahnung, dass sie eines Tages für ihr Tun vor Gott Rechenschaft ablegen müssten. Heute sind wir alle geprägt durch die Aufklärung und die sagt: Letztlich ist der Mensch derjenige, der sein Leben ganz allein in der Hand hat. Auch viele Mitglieder der Kirche denken: Gott hat die Welt vielleicht einmal geschaffen. Aber heute sei es allein unsere Aufgabe, für sie zu sorgen. Das ist mit Luthers Gottesvorstellung schwer zu verbinden. Er ist überzeugt, dass letztlich Gott die Welt regiert. Und Jesus Christus selbst hat nach seiner Auferstehung zum Abschied zu seinen Jüngerinnen und Jüngern
gesagt: »Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.«

Müssen wir also auf Gottes Reich nach dem Tod warten, weil wir es hier auf der Erde nicht schaffen können?
Zimmerling:
Ich denke, dass solche Ja-oder-Nein-Lösungen nicht weiterhelfen. Nach meiner Meinung ist es zwar unsere Aufgabe, uns als Christen für die Verbesserung der Gesellschaft zu engagieren. Es wird uns aber nicht gelingen, das Paradies auf Erden zu schaffen. Solche Versuche führten immer zum Terror.

Es heißt, Gott sei besonders nah im Leid. Der Autor Charles Colson sagte: »Gott verspricht uns nicht, uns aus dem Feuer zu holen, sondern er verspricht uns, zusammen mit uns durch das Feuer zu gehen.« Haben Sie diese Erfahrung auch gemacht, Frau Fuchs?
Fuchs:
Mich hat ein Psalmvers bergleitet, der in die Richtung geht. »Der Engel des Herrn lagert sich um die her, die ihn fürchten, und hilft ihnen heraus.« (Psalm 34,8) Mir war lange nicht bewusst, dass es diesen zweiten Teil des Heraushelfens gibt. Aber ich habe es erlebt, wenn es wirklich schwierig wurde. Als ich aus dem Rollstuhl aufstehen konnte, als ich aus der Klinik entlassen wurde, war Gott mit mir und er hat mir herausgeholfen.

Hat er Ihnen auch in den Momenten tiefster Verzweiflung geholfen?
Fuchs:
In Momenten der Verzweiflung ist die Verzweiflung rein und echt. Dann spürt man die Stärke nicht. Das sind zwei unterschiedliche Momente.

Wie würden Sie die Zeit Ihrer Genesung im Rückblick bewerten, Frau Fuchs? Haben Sie sich mit Ihren Einschränkungen gesellschaftlich gut integriert gefühlt?
Fuchs:
Ich habe zwischendurch immer wieder Momente gehabt, in denen ich dachte: Eigentlich geht es mir hier gerade richtig gut. Wenn ich Ausgrenzung erlebt habe, dann eher, weil Menschen engstirnig waren oder Systeme so waren, dass ich keinen Platz darin finden konnte. Wir müssen als Menschen lernen, aufeinander und unsere verschiedenen Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen.

War das Schreiben dieses Buchs eine Art Therapie?
Fuchs: Ich glaube nicht, dass man sich durch das Schreiben eines Buches therapieren kann. Therapie ist viel wertvoller als »Ich schreibe mal ein Buch, um meine Sachen zu verarbeiten«. Ich habe es geschrieben, weil ich in dieser Zeit unglaublich viel Segen empfangen habe und ich glaube, dass der nicht nur für mich ist, sondern dass ich ihn weitergeben sollte.

Kurzschluss im Kopf

"Kurzschluss im Kopf. Wie Gott mir meinen Schlaganfalls schenkte" von Jasmin Fuchs

Erschienen 2024 

Aktuelle Lesungen mit der Autorin finden Sie auf: 
www.kurzschlussimkopf.de