Land gewinnen

 Auf den Bus warten, über Landstraßen radeln, irgendwo abhängen, der Zug ist längst weg und das Freibad geschlossen – das kennen junge Menschen wie Karolin, Franziska und Constantin aus Lommatzsch. Das kann anstrengend sein, aber auch schön. Und gegen die Langeweile hat die Kirche etwas. 

Text: Andreas Roth // Fotos: Steffen Giersch 


Die Bahnhofsuhr geht einfach weiter. Auf die Minute genau. Doch kein Zug hält in Lommatzsch mehr, seit 23 Jahren schon nicht. Karolin (16), Franziska (15) und Constantin (16) sitzen auf der Bahnsteigkante in der Nachmittagssonne. Fernweh? »Nö«, sagt Constantin. »Man kommt hier eh nicht weg«, sagt Karolin. »Hier sind nicht so viele Menschen wie in der Stadt, man kennt sich eben«, sagt Franziska. »Eigentlich ist es gut.« Wenn da nicht dieses tägliche Bus-Puzzle wäre. Früh lässt es sich noch leichter lösen. 

Um sieben fährt schräg gegenüber vom Lommatzscher Bahnhof der Bus zum Gymnasium, das liegt 20 Kilometer entfernt in Nossen. Um den zu bekommen, muss Karolin um 6:48 Uhr den Bus in ihrem Heimatdorf Daubnitz bekommen, auf den knappen Anschluss hoffen – und immer wieder die Busfahrer bitten, doch zu warten. Schon junge Menschen auf dem Land können Geschichten erzählen von Baustellen, Umleitungen, Stress auf der Strecke. Viel hängt für Karolin, Franziska und Constantin an diesem Bus-Puzzle. Die Schule, Freunde, Freizeit. 

Wenn Franziska nachmittags nach dem Unterricht in ihrer Riesaer Schule noch Freunde besuchen würde, hätte sie mit Bus und Eisenbahn exakt zwei Verbindungen zurück nach Hause – beide über zwei Stunden lang. Oder ein paar Kilometer Landstraße zu Fuß. Karolin trifft ihre Freunde nachmittags in der Cafeteria ihrer Nossener Schule. Eine halbe Stunde, bis der Bus fährt. »In der Stadt kommst du überall hin ohne Eltern«, sagt Karolin. Hier nicht. Ungünstig, wenn man jung ist. 

Heute ist Karolin mit dem Fahrrad am Nachmittag über die welligen Felder dieses fruchtbaren Landstrichs ins Lommatzscher »Offene Haus« gefahren. Die Wolken hängen tief, es sieht nach Gewitter aus. Franziska ist mit dem Bus gekommen, obwohl sie seit zwei Monaten eine hellgrüne Simson hat. Constantin wohnt in der 4 800 Einwohner zählenden Kleinstadt. Ihre Gassen sind eng und gehen auf und ab. 


Auf einem gelben Straßenwegweiser steht: 14 Kilometer bis Meißen, Riesa 16 Kilometer, Döbeln 17 Kilometer. Fast die Mitte Sachsens irgendwo zwischen Dresden, Chemnitz und Leipzig. »Man kommt überall schlecht hin«, sagt Karolin. Lommatzsch, das sind für sie auch die aus den Fenstern schauenden Omis. »Manchmal ist hier schon abends um sieben niemand mehr auf den Straßen unterwegs«, sagt Constantin. 

Aber das »Offene Haus« ist da. Eine ausgebaute Scheune auf dem Pfarrhof gegenüber der mit drei gotischen Spitztürmen weit in der Lommatzscher Pflege grüßenden Stadtkirche St. Wenzel. »Das OH ist offen«, steht auf einer Tafel neben der Tür mit Kreide geschrieben. Immer nachmittags nach Schulschluss. Und einmal in der Woche treffen sich hier Karolin, Franziska und Constantin zur Jungen Gemeinde. Weil Gott für Karolin wie ein großer Bruder ist, der zuhört, wenn sie betet. Weil Franziska die Vorstellung schön findet, dass etwas über uns und nach dem Tod ist. Weil Constantin hofft. 

Oben unter dem Dachgebälk des »Offenen Hauses« spielt Pia (14) mit ihrem Bruder Ben (11) eine Runde Billard. Zuhause hat sie heute etwas Schule gemacht – es ist noch Corona-Zeit, danach auf dem Handy etwas TikTok und Youtube geschaut und eine Geschichte gelesen. Manchmal fährt sie mit ihrem Skateboard, manchmal sitzt sie einfach nachmittags nur zuhause in Dörschnitz oder geht ein bisschen in ihrem Dorf spazieren. Manchmal trifft sie dort Freunde oder kuschelt mit ihrer Katze oder spielt mit ihren drei jüngeren Brüdern. Manchmal ist Pia einfach nur langweilig. 

Dann fährt sie mit dem Rad, wenn der Unterricht in der Lommatzscher Oberschule aus ist, ins »Offene Haus«. Da gibt es Kicker, ein rotes Lümmelsofa, einen Boxsack und Manchmal ist hier schon abends um sieben niemand mehr auf den Straßen unterwegs. eine Bar mit Kuchen. Fast jeden Tag ist sie da. »Man hat Spaß, kann hier Hausaufgaben machen, spielen«, sagt Pia, »und mit Peter reden« 

Peter Schumann (47) ist der Sozialarbeiter hier und das »Offene Haus« das einzige Jugendhaus in Lommatzsch. Die evangelische Kirchgemeinde hat es mit ihrer Jungen Gemeinde vor gut 25 Jahren dazu ausgebaut. »Um sich – ein bisschen im urchristlichen Sinne – um die zu kümmern, die am Rande stehen«, sagt Schumann. Meist treffen sich bei ihm Ober- und Förderschüler. Und meist sind sie wie Pia gar nicht in der Kirche.

Doch zu kämpfen haben auch die Jugendtreffs selbst. Das Geld von Land und Kreis kommt nur von Jahr zu Jahr, langes Planen ist so unmöglich. Und die harten Einschnitte der Landesregierung in die offene Jugendarbeit vor zehn Jahren stecken vielen Projekten noch in den Knochen. »Kommunen leiden immer stärker unter Geldmangel und betrachten solche Angebote als freiwillige Aufgaben, wie es auch im Gesetz steht – doch das ist ein Missverständnis«, sagt Christian Kurzke, Studienleiter Jugend der Evangelischen Akademie Sachsen

Zwar plant die schwarz-grün-rote Landesregierung wieder mit mehr Geld für die offene Jugendarbeit und gibt längerfristige Zusagen. »Aber der Freistaat und die Landkreise müssen die Förderung für junge Menschen auf gute, stabile Beine stellen. Das muss besser werden«, fordert Kurzke. So wie es auch neue Ideen für den Nahverkehr auf dem Land wie Ruf- und Sammeltaxis brauche. »Ich wünsche mir einen Perspektivwechsel: Was kann möglich gemacht werden, damit junge Menschen Bock haben, auf dem Land zu leben oder zurückzukommen?« 

Dort, wo Lommatzsch in die sattgrünen Hügel übergeht, hat die Stadt Rampen für Skateboards und BMX-Räder gebaut. Manchmal fährt Pia hier. So wie viele aus ihrer Oberschule. Aus der Musikbox kommt deutscher Rap. 

Als Karolin, die Gymnasiastin mit der Wollmütze, auch anfing mit dem Skaten, fühlte sie sich fremd. »Diese Blicke, dieses Abchecken – da ist die Meinung bei vielen Jugendlichen hier schon gebildet«, sagt sie. »Viele sind so oberflächlich und urteilen schnell«, sagt Franziska. Hinzu kommt, dass beide nicht auf Deutsch-Rap stehen. Und Constantin hört lieber Klassik und Filmmusik. »Wenn ich damit in einer Musikbox um die Ecke kommen würde …« – die Drei müssen lachen. In einer Großstadt wären sie damit nicht so allein. 

Gegenüber von der Skater-Bahn bleiben Karolin, Franziska und Constantin an einem Maschendrahtzaun stehen. Dahinter schlängelt sich eine orange Wasserrutsche in ein Schwimmbecken, darin quaken nur Frösche. Das Lommatzscher Freibad ist seit zehn Jahren geschlossen. Das Becken ist kaputt und der Stadt fehlt Geld. »Aber ich glaube, wir haben das nötige Geld«, Karolin zeigt zu dem blauen Schwimmbecken. »Hier in der Gegend wurden in den letzten Jahren doch so viele Straßen gebaut.« 

Karolin, Franziska und Constantin würden bei solchen Fragen gern mitreden. Weil es sie als junge Menschen etwas angeht. »Wenn man möchte, dass junge Menschen auf dem Land bleiben oder zurückkehren, dann brauchen sie die Erfahrung, dass sie wahrgenommen und beteiligt werden«, sagt Christian Kurzke von der Evangelischen Akademie Sachsen. »Dann werden sie sich auch als Erwachsene an der Demokratie beteiligen und sie stärken.« 

Der Lommatzscher Bahnhof sieht noch immer stattlich aus. Sogar das Gras ist kurz geschnitten. »Es ist so deprimierend«, sagt Franziska. »Der Zug ginge an meinem Dorf vorbei und ich könnte früh eine Stunde länger schlafen.« Wenn er fahren würde. Karolin, Franziska und Constantin sitzen auf der Bahnsteigkante. 

Wovon träumen sie? Von einem kleinen Haus am Wald ohne Menschen, sagt Franziska. Oder in der Nähe einer Kleinstadt, sagt Constantin. Land kann schön sein. Karolin will hinaus in die Welt. »Immer Neues entdecken, Neues machen.« 

Die Schienen zu ihren Füßen sind noch ganz blank 

Platznot

 Wie junge Menschen neu zweckfreie Räume suchen und benötigen - Tagung am 2. November 2021 in Riesa


 
In den Städten steigen die Mieten und in Straßenzügen sind zunehmend alle Freiflächen bebaut. Im ländlichen Raum verschwindet die Angebotsvielfalt für junge Menschen. Gehen sie ihren Bedürfnissen in öffentlichen Räumen mangels Alternativen nach, sind Konflikte vorhersehbar. Und die fiskalischen Folgen sowie die konkreten Auswirkungen der jugendpolitischen Entscheidungen während der Corona-Pandemie verdeutlichen: junge Menschen haben es außerhalb der formalen Bildung zukünftig noch schwerer. Mit welchen Orten kann Gesellschaft, aber auch Kirche junge Menschen im Jung-Sein unterstützen?

Partner: AG Eigenständige Jugendpolitik in Sachsen, Jugendstiftung Sachsen

Leitung: Christian Kurzke

Tagungsnummer: 21-105

Anmeldung unter www.ea-sachsen.de