Versöhnungsdenkmal in Berlin, Foto:  Brian Dooley 

"Wir können nicht jede Spannung in unserem Leben auflösen"

Ein unbedachtes Wort ist leicht zu entschuldigen. Aber sollten auch Betroffene von Straftaten dem Täter oder der Täterin irgendwann vergeben? Ein Gespräch mit der Theologin Barbara Ladenburger und Landesbischof Tobias Bilz.

Die Fragen stellte: Iris Milde

 

Herr Bilz, Frau Ladenburger, wann hat Sie das letzte Mal jemand um Verzeihung gebeten? 

Tobias Bilz: Ich kann das nicht mit Tag und Stunde benennen, aber in meiner Ehe vollziehen wir das relativ häufig. Das kann auch mal tränenreich sein. 

Barbara Ladenburger: Ich war vor ein paar Wochen mit Freundinnen unterwegs und da gab es eine emotionale Situation, in der wir auch Dinge gesagt haben, die wir später bereut haben und für die wir uns gegenseitig um Verzeihung gebeten haben. 

Ob in Familie, im Freundes- oder Kollegenkreis, im Verein oder in der Kirchgemeinde. Wo Menschen zusammen sind, werden Fehler gemacht. Aber ich habe das Gefühl, dass Vergeben und Verzeihen altmodisch geworden ist. Empfinden Sie das auch so? 

TB: Nein, aber vielleicht bin ich ja altmodisch. Wo Menschen Beziehungen eingehen – auch ganz positive Beziehungen – kommt es zu Verletzungen. Das ist nicht zu vermeiden. Wir haben Eigenarten in uns, die auf die Eigenarten anderer treffen, verschiedene Prägungen, verschiedene Kommunikationsgewohnheiten, das führt zu Missverständnissen. Es ist ein lebenslanger Übungsprozess, damit umzugehen, dass man andere verletzt und von anderen verletzt wird. 

BL: Ich habe schon das Gefühl, dass das Sich-Entschuldigen für viele dazugehört. Ich merke immer, wie sehr es mich weiterbringt, wenn ich in der Lage bin, mir selbst Fehler einzugestehen und gleichzeitig anderen gegenüber großzügig zu sein und danach auch weitergehen zu können. 

Im Christentum spielt der Begriff Versöhnung eine zentrale Rolle. Das Neue Testament lese ich in dieser Hinsicht als Paradigmenwechsel. Die Menschen müssen keine Opfer mehr bringen, damit Gott ihnen ihre Sünden vergibt, sondern Jesus ist für alle Sünden am Kreuz gestorben. 

TB: Ja, das kennen wir aus dem Alltag: Wenn es Streit gibt und das große Schweigen sich breitmacht, dann kommt die Frage auf, wer muss jetzt den ersten Schritt gehen. Oft sagen wir, der Schuldigere muss den Anfang machen. Ich halte das für nicht hilfreich. Im Neuen Testament ergreift Gott die Initiative. Obwohl wir schuldig werden, sagt Gott: Ich halte das nicht aus, dass zwischen den Menschen und mir dieser Graben besteht. Ich komme selbst in die Welt. Das ist religionsgeschichtlich einmalig, ein menschwerdender Gott, der sich unter die Menschen mischt und ihr Schicksal teilt und der dann noch seinen Tod als Sühne für alle Sünden definiert. Das ist ein ganz starker, zentraler Gedanke des christlichen Glaubens. 

BL: Ich empfinde gerade das Leiden Jesu im Neuen Testament als Brücke, die es uns Menschen leichter macht. Als jemand, der in seinem Leben auch Schweres erlebt hat und auch immer als gläubiger Mensch damit umgegangen ist, verstehe ich das als Angebot von Gott, mit meinem Schmerz nicht allein zu sein, jemanden zu haben, der mit mir geht und dass die ganze Last von Versöhnung und Weiterleben nicht allein auf mir lastet, sondern dass mich jemand an die Hand nimmt. 

Frau Ladenburger, Sie haben es eben schon angedeutet: 2016 ist ihre Schwester gewaltvoll ums Leben gekommen. Denken Sie als Christin heute anders über Versöhnung als früher? 

BL: Ich habe mir davor einfach weniger Gedanken über das Thema gemacht. Ich habe vor dem Tod meiner Schwester intellektuell verstanden, dass Versöhnen und Vergeben schwierig sein kann, aber es ist etwas ganz anderes, wenn man es dann selbst erlebt und wenn man das aushalten muss. Wenn man aushalten muss, dass man nicht alles in seinem Leben auflösen kann und dass dies mich mein ganzes Leben begleiten wird. Aber ich empfinde es als großes Geschenk, dass meine Familie und ich einen Umgang damit gefunden haben, gemeinsam einen Weg nach vorne zu einem versöhnten Leben. 

Wie haben Sie das gemacht? 

BL: Ich habe dafür kein Geheimrezept. Mir ist es wichtig, auch im Sinne meiner Schwester zu leben. Mir war immer klar, dass es meine Schwester nicht gewollt hätte, wenn ich verbittere oder mich dem Hass und der Wut hingebe. Sie hätte gewollt, dass wir einen Weg finden, mit diesem unvorstellbaren Tod in gewisser Weise zu leben. Nicht ihr Tod kann jemals sinnvoll sein, aber das Leben mit der Erfahrung dieser Gewalt in all ihrer Sinnlosigkeit kann sinnerfüllt werden, so können wir etwas weitergeben. Dass wir versuchen das, was meine Schwester in dieser Welt nicht mehr bewirken kann, in ihrem Sinne zu tun. 

 

Barbara Ladenburger (Jahrgang 1998) ist Theologin und Politikwissenschaftlerin. Sie arbeitet als Referentin für politische und ethische Grundfragen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken.  
Foto: ZdK, Peter Bongard

 

Tobias Bilz (Jahrgang 1964) ist Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens. Der Theologe war zuvor als Dezernent im Landeskirchenamt für Gemeindeaufbau, Seelsorge und Medien sowie als Landesjugendpfarrer tätig. 
Foto: evlks, Franziska Kestel

 

Wenn wir über Versöhnung sprechen, haben wir natürlich auch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine im Hinterkopf. Die vielen Wunden, die auch die Zeit nicht heilen können wird, die vielen menschlichen Verluste, die nie wieder gutzumachen sind. Kann es nach einem solchen Konflikt überhaupt Versöhnung geben? 

TB: Mir hilft das, wenn wir eher von Vergebung sprechen als von Versöhnung, weil Versöhnung ganz stark die Beziehung zwischen Menschen im Blick hat. Vergebung aber sagt: Da ist etwas vorgefallen und dieser Vorfall wird aufgelöst, damit die Menschen von dieser Last befreit werden. Man schaut sich an, was eigentlich passiert ist und warum, ist es absichtlich, wissend, mutwillig geschehen? Ich merke in Schuldzusammenhängen immer wieder, dass es auch für Betroffene ein Akt der Selbstbefreiung ist, zu vergeben. Vergeben ist für mich persönlich die Fähigkeit, mich selbst von dieser Last zu befreien. Das ist sehr schwer, aber auch wichtig, damit ich mich wieder frei bewegen kann. 

BL: Ich kann diesen Aspekt der Selbstentlastung sehr gut mitfühlen. Es ist ein wichtiger Prozess, Dinge abgeben zu können, sich selbst zu befreien, auch von der ständigen Auseinandersetzung mit dem, was vorgefallen ist. Sonst bleibt man stehen und kann nicht weitergehen. Für mich ist es schmerzhaft zu sehen, wie viele Verletzungen in der Ukraine gerade entstehen, die unendlich lange Zeit prägen werden. Und ich bin nicht sicher, ob man irgendwann in der Lage sein wird, das komplett hinter sich zu lassen. 

Der Begriff Versöhnung in Anbetracht des Todes Ihrer Schwester ist sicher schwierig und kann vermutlich eine echte Zumutung sein. Es können Dinge natürlich auch nicht wieder „gut“ gemacht werden. Gibt es Ihrer Meinung nach eine Vorstufe der Versöhnung, ohne zu vergeben? 

BL: Ich glaube, dass es eine Möglichkeit gibt, ein Leben weiterzuleben. Am Ende ist Versöhnung auch nicht nur meine Aufgabe, ich kann sie an Gott abgeben. So bin ich in der Lage, mein Leben weiterzuleben trotz der bleibenden Schwere und Trauer, die mich mein ganzes Leben begleiten wird. Ich bin fest davon überzeugt, dass es am Ende nicht wir Menschen sind, die die Welt richten können, sondern dass es am Ende bei Gott liegt. 

TB: Das beeindruckt mich sehr. Ich kann das sofort nachvollziehen. Ich denke auch, Frau Ladenburger, dass es ganz normal ist, dass Sie das Wort Versöhnung in Ihrer Situation nicht anwenden. Warum auch, Sie haben ja keine Beziehung zu diesem Menschen, dem Täter, gehabt, die gestört wäre und geheilt werden müsste.
 

Ich finde das interessant, weil von Christen Versöhnung gewissermaßen aus dem Glauben heraus erwartet wird. Als Institution Kirche erleben Sie diesen Druck seitens der Gesellschaft auch gerade sehr stark, wenn es um die Aufarbeitung der Fälle sexueller Gewalt in der Kirche geht. 

TB: Die eigentliche große Herausforderung für uns als Kirche ist, dass wir zunächst einmal zulassen, dass das an uns herankommt. Was Menschen dort angetan wurde, ist unglaublich schmerzhaft. Und wenn wir da von Versöhnung sprechen, bedeutet das für mich in erster Linie, den Schmerz anzuschauen, das Leid zu würdigen. Und alle weiteren Schritte müssen mit den Betroffenen gemeinsam gegangen werden. Und da sind wir als Kirche herausgefordert, zu schauen, was den Betroffenen zum Leben hilft. 

Aber von Kirche wird auch erwartet, dass sie um Vergebung bittet. 

TB: Da mache ich persönlich eine kleine Unterscheidung zwischen Schuldeingeständnis und Verantwortung übernehmen. Schuld kann man nur eingestehen, wenn man sich einer persönlichen Schuld bewusst wird. Zum Beispiel, wenn jemand von den Taten eines Pfarrers gewusst und nicht alle Maßnahmen ergriffen hat, um weitere Taten zu verhindern. Verantwortung übernehmen heißt zum Beispiel, dass man Betroffenen gegenüber Auskunft gibt, dass man sich dem stellt. Wir müssen das Leid anerkennen, zum Beispiel mit Anerkennungsleistungen, aber wir können es damit nicht wieder gut machen. 

Braucht es mehr Zeichen und Symbole der Versöhnung? 

TB: Unbedingt! Gesten sind von erheblicher Bedeutung. Der Kniefall von Willy Brandt ist ja das Paradebeispiel. Umarmungen, einen Erinnerungsort schaffen, gemeinsam zu beten, ein Ritual. Worte sind flüchtig und die Geste vollzieht das Wort. 

Was hätte Ihnen oder was würde Ihnen helfen, Frau Ladenburger? 

BL: Mir hat immer geholfen, wenn Menschen mit mir gehen, mit mir fühlen. Ich glaube auch, dass es Menschen sehr viel Halt geben kann, wenn es Rituale gibt, die Versöhnung und Vergebung aufgreifen. Dass man sich das nicht ausschließlich selbst erarbeiten muss, sondern dass es Formen dafür gibt. Ich denke, das ist ein Geschenk, wenn man so etwas als Kirche anbieten kann. 

Sexualisierte Gewalt und Missbrauch in der evangelischen Kirche

Zum Stand von Aufarbeitung und Prävention in Sachsen


 Seit mehr als zehn Jahren sind Fälle systematischer spiritueller und sexualisierter Gewalt und des Missbrauchs in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens bekannt. Viele liegen Jahrzehnte zurück, doch es gibt auch aktuelle Fälle. Die Veranstaltung will über das Unfassbare sprechen, Opfern eine Stimme geben und gemeinsam Maßnahmen zwischen Prävention und Aufarbeitung kritisch analysieren und reflektieren – auch vor dem Hintergrund der Veröffentlichung der ForuM-Studie zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland. 

23. November 2023 // Do 17-21 Uhr

Ort: Dresden, Haus der Kirche - Dreikönigskirche
Informationen und Anmeldung