»Das Hinterfragen ist in die
protestantische DNA eingeschrieben«
Die Polarisierung in der Gesellschaft trifft auch die Kirchen. Liegt die Lösung in einfachen Antworten einer Autorität? Das wäre der falsche Weg, meint der Historiker und Theologe Benedikt Brunner vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte.
Fragen: Andreas Roth // Foto: Angelika Stehle, IEG
Corona, Migration, Gerechtigkeit – wird auch in den Kirchen so darüber gestritten wie in der ganzen Gesellschaft?
Brunner: Nach meinem Eindruck sind die Brüche in den Landeskirchen nicht so stark wie in der gesamten Gesellschaft. Zur Corona-Politik herrscht im Mainstream und in den Leitungen der evangelischen Kirchen ein relativ großer Konsens, dass man sich an die Vorgaben der Politik halten sollte. Beim Thema Migration gibt es ebenfalls einen relativ breiten Konsens in den Kirchenleitungen, dass die Kirche da helfen muss und Migration eine Chance ist. Doch die öffentliche Unterstützung der Evangelischen Kirche in Deutschland für die Flüchtlingsrettung im Mittelmehr trifft auch unter Christen auf starke Kritik – einige halten das für eine unzulässige Politisierung der Kirche.
Wie viel Kontroverse können Kirchen aushalten?
Als Volkskirche waren sie ein Forum für ein breites Spektrum an Meinungen – vom Sonntagskirchgänger bis zum politisch erweckten Demonstranten. Mit der Schrumpfung der Kirche wird das zunehmend schwierig. Und das sorgt für Konfliktpotential. Wenn da nicht Formen gefunden werden, um diese Konflikte auszutragen und zu befrieden, könnten einzelne Gruppen aus der Kirche austreten, sich selbst organisieren oder in Freikirchen abwandern.
Aber waren nicht schon in der Bibel Kontroversen und Vielstimmigkeit eher der Normalzustand?
Wenn man in die Kirchengeschichte schaut, gab es immer Auseinandersetzungen – und trotzdem gibt es heute noch christliche Gemeinden. Da könnte man gelassener sein. Aber heute kommt erschwerend hinzu, dass die Kirche zu gesellschaftlichen Themen richtungsweisende Positionen formulieren will – obwohl es in ihr selbst unterschiedliche Meinungen gibt.
Beschleunigt die gesellschaftliche Polarisierung auch das Auseinanderdriften in den Kirchen?
Kirche ist schon seit Jahrzehnten nicht mehr ein Ort, wo sich vom Arbeiter bis zum Industriellen alle versammeln und ihren Glauben leben. Die auseinanderdriftenden Positionen treten auch innerhalb der Kirchen auf und es fällt immer schwerer, sie unter einer einheitlichen Position zum Ausdruck zu bringen.
Müssen dann Bischöfinnen, Kirchenleitende und Pfarrer mit Autorität für Konsens sorgen?
Ich denke nicht, dass viele Protestantinnen und Protestanten diesen Weg mitgehen würden, wenn ein Bischof auf den Tisch haut. Das geht nur über eine offen gehaltene Kommunikation – auch wenn das der ungleich schwerere und schmerzhaftere Weg ist. Ein anderer Weg wäre zu entscheiden: Wir als Kirche müssen nicht zu jeder politischen und ethischen Frage etwas Einheitliches sagen.
Aber braucht man in der Mediengesellschaft nicht eine klare Position, um durchzudringen?
Je pointierter die Meinung, desto mehr wird sie in der Logik der Medien gehört. Aber das ist ein zweischneidiges Schwert. Denn je pointierter die Meinung, desto größer ist auch die Gefahr, dass sie Schlagseite hat. Die Kirche muss dabei darauf achten, dass klare Positionen auch in ihrem Inneren mitgetragen werden.
Könnte zu viel Autorität in den Kirchen auch Menschen, die offen für sie wären, abschrecken?
Ein Übermaß an Autorität steht einer protestantischen Kirche nicht gut zu Gesicht. Ich halte es eher mit Luthers Freiheit eines Christenmenschen. Auch die katholische Kirche ist im Moment nicht gerade eine Erfolgsgeschichte kirchlicher Autorität. Aber es gibt auch Freikirchen, die die Autorität von Pastoren sehr betonen und sehr erfolgreich damit sind. Und im Moment suchen in der gesamten Gesellschaft viele Menschen klare, einfache Erklärungen für komplexe Probleme – aber die Kirchen sollten auf diesen Zug nicht aufspringen.
Kann eine vielstimmige Kirche attraktiv sein?
Das wäre ein Modell für die Kirche der Zukunft: Dass sich Menschen in ihren unterschiedlichen Zugängen zum Glauben und mit all ihren Fragen in ihr wiederfinden können. Der Kern der christlichen Botschaft sollte nicht verwässert werden – aber wie der Glaube an Jesus Christus gelebt wird, auch ethisch und politisch, da sollte es Vielfalt geben.
Ist der Kern des Glaubens am Ende etwas Autoritäres, weil er von außen auf den Menschen zukommt?
Da geht es dann nicht mehr um Konsens. Diese Spannung gibt es schon immer im Christentum. Aber das muss die Kirche aushalten. Sie muss aufpassen, dass sie ihre theologischen Positionen nicht immer stärker abschwächt, um sie salonfähig zu machen.
Was ist dieser Kern des christlichen Glaubens für Sie?
Dass Jesus Christus für unsere Sünden gestorben ist und wir im Glauben an ihn zugleich Sünder und Gerechte sind. Aber auch in diesen Grundfesten des Glaubens ist nicht alles eindeutig, auch da wird viel angefragt und kritisiert. Dieses Hinterfragen ist in die protestantische DNA ganz tief eingeschrieben. Für mich macht das auch die Attraktivität der evangelischen Kirche aus. Diese stetige Unruhe, die sich ständig weiterentwickeln will.
Autorität und Dissens
Wochenendtagung vom 12. bis 14. November
Welche Bedeutung haben Konflikte für (Glaubens-)Gemeinschaften? Welche Konflikte können, ja müssen sie aushalten? Was für einen Konsens brauchen sie, um bestehen zu können? In welchem Verhältnis stehen Dissens und Autorität zueinander? Die Wochenendtagung spürt (kirchen-)politischen wie auch theologischen Fragen nach.
Klosterhof St. Afra Meißen
Studienleitung: Dr. Julia Gerlach und Dr. Benedikt Brunner
Tagungsnummer: 21-730
Anmeldung unter www.ea-sachsen.de